Ukraine und Europa:"Flüchtlinge zerstören die Bequemlichkeit des europäischen Daseins"

EU-Fahne auf dem Maidan

Traum von Europa: Ein behelmter Demonstrant mit der Fahne der Europäischen Union bei Proteste auf dem Maidan am 16. Januar 2014.

(Foto: AFP)

Wo ist die EU-Begeisterung der Ukrainer hin? Philosophin Valerija Korabljowa über die enttäuschten Erwartungen an ein Wohlfahrtsidyll - und die ukrainischen Ängste in der Flüchtlingskrise.

Interview von Cathrin Kahlweit

Gerade erst hat die Ukraine den zweiten Jahrestag des Maidan-Aufstandes gefeiert. Damals, im Winter vor zwei Jahren, war der Unabhängigkeitsplatz in Kiew voll mit europäischen Flaggen gewesen. Heute ist die Begeisterung für Europa in der Ukraine etwas abgeflaut. Man fühlt sich - trotz der Sanktionen - nicht ausreichend unterstützt von der EU. Terror, Streit über Flüchtlinge und der Mangel an innereuropäischer Solidarität mehren die Zweifel.

Die junge ukrainische Philosophin Valerija Korabljowa, die sich auf "Ideologien und ihre Wirkungsmacht" spezialisiert hat, forscht zur Zeit am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien über das "moderne Europa", seine Werte und seine Anziehungskraft. Ein Gespräch darüber, wie die EU von außen und von innen aussieht - und ob das enttäuschend ist.

SZ: Funktioniert die Idee von Europa überhaupt noch, um sich daran festzuhalten und zu wärmen?

Valerija Korabljowa: Derzeit funktioniert Europa vor allem für Menschen außerhalb der Union; für sie ist es ein Erfolgsmodell. Es lebt in ihren Köpfen als "ersehntes Europa", während die Europäer selbst es mehr als Last wahrnehmen denn als Geschenk.

Valerija Korbaljowa

Die Philosophie von Ideologien und ihrer Wirkungsmacht: Valerija Korabljowa.

(Foto: SZ.de)

Wie sieht dieses ersehnte Europa für eine Ukrainerin aus, die auf dem Maidan EU-Flaggen geschwenkt hat?

Beim ersten Maidan, während der Orangenen Revolution 2004, träumten die Ukrainer von Europa, weil es ihnen ein besseres Leben versprach. Beim zweiten Maidan ging es dann schon mehr um Ideen und Werte; es war - auch - ein Aufstand, mit dem die Ukraine ihren Weg nach Europa suchte.

Wussten denn die Ukrainer, die blaue Flaggen mit goldenen Sternen schwenkten, überhaupt, wovon sie da träumten?

Es gab und gibt eine extensive Debatte über Europa in der Ukraine - aber die ist nicht sehr rational. Der geringere Teil der Debatte ist gespeist aus realer Erfahrung, der Großteil aus Mythen.

Ist es vor allem der Mythos eines leichten und besseren Lebens?

Europa wird als Gemeinschaft wahrgenommen, in der die individuelle Wohlfahrt an erster Stelle steht. Man muss Europa und Russland vergleichen, die unsere nächsten Nachbarn sind: In Russland existieren Menschen für den Staat, es wird erwartet oder erzwungen, dass sie ihre persönliche Wohlfahrt für den Staat opfern. Die EU hat die längste Zeit nicht danach gestrebt, eine Weltmacht zu sein, sondern ihren Bürgern ein anständiges Leben zu garantieren. Das ist für Ukrainer attraktiv.

Die Vordenker der EU würden es weit von sich weisen, dass es vornehmlich um Wohlfahrt ging und geht. Selbst wenn das zunehmend in Zweifel steht, inszeniert sich Europa doch immer auch als Wertegemeinschaft. Ging es den Pro-Europäern am Maidan auch um Werte?

Die Werte sind es doch, die einen Staat oder Staatenbund einen. Damit Menschen anständig leben können, reicht es nicht, sich auf einen Staat zu verlassen wie auf eine Vaterfigur, die entscheidet, gibt und nimmt. Für ein gutes Leben braucht man Freiheit, Gleichheit, braucht man letztlich die Hinterlassenschaften der französischen Revolution.

"Europa weiß nicht mehr, wie man politische Entscheidungen fällt"

Was kann die EU von der europäischen Euphorie des Maidan lernen? Vor zwei Jahren sagte man bei uns: Nehmen wir uns ein Vorbild an Kiew, dort wird ein europäisches Narrativ gefeiert, das wir längst vergessen haben.

Die Zuversicht, der Glaube an Europa kann nicht von außen kommen. Man muss nur auf die Probleme schauen, die die EU hat: die Ökonomisierung von Gesellschaft, Bildung und Moral. Diese Ökonomisierung steht für eine Korruption eben der Werte, derer sich Europa rühmt. Ein weiteres Problem ist die "anämische Gesellschaft" nach Peter Sloterdijk, einer Gesellschaft also, in der Menschen nicht wissen, was sie wollen, sie kämpfen nicht mehr für eine Idee, sie leben gut, aber ohne Passion. Dann ist da der immense Glaube daran, dass uns Aufklärung und Technologien automatisch in ein besseres Leben führen; stattdessen stapeln die Menschen hier in Europa die Artefakte dieses besseren Lebens und sind dabei doch immer weniger gebildet. Wir delegieren unser Wissen an Google, unsere Verantwortung an Politiker.

Interessant: Ich frage nach europäischen Werten, und Sie antworten mit der Entseelung der Welt. Zeigt sich das Scheitern Europas nicht viel konkreter - an einem neuen Nationalismus, neuen Zäunen, der Unwilligkeit zum Teilen?

Die Euro-atlantische Welt ist doch der Ursprung dieser Tendenzen. Zäune, Nationalismen sind nur die jüngsten Indizien, die zeigen, dass in Europa Politik durch Ökonomie ersetzt wurde. Europa weiß nicht mehr, wie man politische Entscheidungen fällt. Das war auch lange nicht nötig. Aber jetzt ist Europa in einer ganz realen Krise, und es muss zur Politikfähigkeit zurückfinden. Denn plötzlich tauchen am rechten und am linken Rand Bedrohungen auf. Rechte Ideologien arbeiten mit Angst, linke Ideologien mit Hoffnung. Menschen haben Angst, deshalb wächst die Rechte. Diese Angst ist irrational, deshalb kann man sie nicht schnell entkräften.

Zerstören also die Flüchtlinge den eurozentristischen Traum vom Leben auf einer Wohlstands-Insel?

Die EU hatte von Beginn an einen Konstruktionsfehler. Sie hat sich immer definiert, als gäbe es die Welt drum herum nicht. Alle Mitglieder waren mehr oder minder auf dem gleichen zivilisatorischen Level, man nahm den Konsens als Selbstverständlichkeit. Aber Europa ist nur ein Teil der Welt. Die Flüchtlinge zerstören die Bequemlichkeit des europäischen Daseins. Manche Forscher sagen, dies sei der Preis für die Zeit des Kolonialismus, jetzt kämen die Menschen aus den Kolonien und änderten Europa.

Der Historiker und Ukraine-Spezialist Tim Snyder hat das kürzlich formuliert: Europa gefalle sich als Wertegemeinschaft, obwohl es letztlich nichts anderes als eine Interessengemeinschaft ehemaliger Kolonien sei, die nach dem zweiten Weltkrieg zusammengerückt sind.

Snyder hat ein zweistöckiges Ideengebäude entwickelt: Nach 1945 hat es eine gegenseitige Stärkung der Ex-Kolonien gegeben. Interessant aber wird es 1989, als frühere Kolonisten auf die neuen EU-Staaten trafen, die sich selbst in gewisser Weise als frühere Kolonien der UdSSR verstanden. Die EU wurde extrem heterogen, weil sie in Fragen von Hegemonie und Dominanz auseinanderfiel. Das Kräfteverhältnis war, wenn man so will, ein Missverhältnis.

Deshalb wurde die Idee vom Europa der zwei Geschwindigkeiten geboren.

Das hat ja auch eine Weile funktioniert - aber jetzt wird dieses Konstrukt in Frage gestellt durch die Flüchtlingskrise. Als die früheren Kolonien der EU beitraten, hofften sie auf Privilegien, wie es heute die Ukraine tut. Aber sie rechneten nicht mit Pflichten. Wenn man das Mitglied einer Gemeinschaft wird, muss man geben und nehmen. Derzeit müssten die Mittel- und Osteuropäer in der EU sich solidarisch zeigen und etwas zurückgeben - nicht an Europa, sondern an die Flüchtlinge.

Wozu nicht nur sie nicht bereit sind.

Mir fällt dazu das Konzept der Parias und Parvenus von Hannah Arendt ein. Als die früheren Sowjetkolonien Aufnahmeverhandlungen mit der EU führten, wurde diskutiert, was und ob sie es wert sind. Sie fühlten sich wie Parias. Jetzt benehmen sie sich wie Parvenüs. Sie überwinden nicht die innere Logik der Diskriminierung, sie wenden sie vielmehr gegen andere an: gegen Flüchtlinge von außerhalb, und gegen Migranten innerhalb Europas.

"Kulturelle Homogenität funktioniert nicht mehr im 21. Jahrhundert"

Der grassierende Nationalismus lässt sich nicht allein durch Neu gegen Alt, Ost gegen West erklären. Es gilt: jeder gegen jeden. Was ist da passiert?

Es gibt zwei kontroverse Vorstellungen vom Überleben Europas. Gemäß der einen ist die EU als Dach konzipiert, welches das Überleben von Nationalstaaten letztlich erst möglich machte. Manche Forscher nennen das Co-Souveränität. Das andere Konzept lautet: Staaten wie Deutschland oder Frankreich sehen sich als Geberländer, als EU-Sponsoren, die, um ihre eigenen Interessen zu schützen, verführt sind, als Nationalstaaten zu denken und zu handeln, um zu überleben. Die zentrale Frage lautet also: Müssen wir also Europa als Staatenbund retten? Oder müssen wir die Idee von Europa aufgeben, um unsere Nationalstaaten zu retten?

Die Idee von Europa liegt im Staub. Was muss passieren? Es wird nicht reichen, dass Jean Claude Juncker die Rede seines Lebens hält und Solidarität fordert.

Es geht ja nicht nur um Europa für die Europäer. Wenn man die Menschen überzeugen kann, dass sie ihren Nationalstaat nur retten können, wenn sie auch loyal gegenüber Europa und den gemeinsamen Werte sind, dann können beide überleben.

Derzeit wird Angela Merkel beschuldigt, sie sei schuld, dass die Flüchtlinge kommen und Europa überlasten.

Ich halte das für Unsinn. Kulturelle Homogenität funktioniert nicht mehr im 21. Jahrhundert. Es ist naiv zu denken, dass die Bundeskanzlerin diese Menschen eingeladen hat - und wenn sie das nicht getan hätte, würden sie nicht kommen. Sie kommen so oder so, und es ist an Europa, zu wählen: Will man die Augen verschließen und den Einfluss auf die eigenen Zukunft verlieren, oder will man etwas unternehmen und die Dinge kanalisieren? Europa kann sich auf seiner Insel nicht retten.

Was bedeutet das eigentlich alles für die Europa-Fans in der Ukraine? Wird die EU als scheiterndes Projekt angesehen - eben jenes Europa, das vor zwei Jahren auf dem Maidan noch glorifiziert wurde?

Die Ukraine sorgt sich mehr um die interne Situation und hat Angst vor Russland. Aber die Ukrainer sehe sich auch als Spiegel für Europa: Wir haben unsere eigene Flüchtlingskrise, haben Angst vor dem Verlust unserer selbstbestimmten Zukunft, vor dem Einfluss von Menschen, die unseren Sozialvertrag nicht unterschreiben würden.

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