Berlin:Der Soundmeister

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"Es ist wieder angenehm, Herthaner zu sein", sagt Chefcoach Pal Dardai. (Foto: Metodi Popow/imago)

Unter Coach Dardai hat sich in der Hauptstadt Erstaunliches getan: Hertha spielt plötzlich Fußball mit ästhetischem Anspruch - und reist nun als Vierter zum FC Bayern.

Von JAVIER CÁCERES, Berlin

Man kann kaum behaupten, dass Pal Dardai bisher als Soundforscher aufgefallen wäre. Doch wenn man den Trainer von Hertha BSC danach fragt, was denn nun anders sei an dieser seltsam sensationellen Berliner Mannschaft, die an diesem Samstag als Tabellenvierter nach München zum FC Bayern reist, so fallen Dardai zur Verdeutlichung des Aufschwungs Klänge ein: "In der vergangenen Saison hatten wir viele Zufallstreffer, die klangen etwa so", sagt Dardai - und reiht knarzende und quietschende Geräusche aneinander, die sich anhören wie Zitate aus Werken der Einstürzenden Neubauten, einer postindustriellen Musikband der achtziger Jahre. "Jetzt hingegen kann man zu unseren Toren eine Melodie singen, einen Rhythmus ausmachen . . . Es gibt einen Spielaufbau, Vorbereitungen über die Außenpositionen schöne Tore . . .", sagt Dardai.

Die Stimmungslage? "Es ist wieder angenehm, Herthaner zu sein", sagt Dardai

In der Tat, Hertha hat unter Dardai einen neuen Sound bekommen. Hertha spielt unter Dardai: Fußball.

Das klingt banal, ist aber auch durch die nackten Zahlen der Tabelle zu belegen. 23 Punkte hat Hertha BSC in dieser Saison gesammelt, nach bereits sieben Siegen stehen die eigentlich auf einen neuerlichen Abstiegskampf gepolten Berliner aktuell auf einem Champions-League-Qualifikationsplatz. Herthas Soll für die Bundesliga-Hinrunde ist damit vorzeitig erfüllt - und es ist nicht verwegen zu behaupten, dass das Hauptstadt-Team vor der Winterpause (nach Bayern folgen als Gegner Leverkusen, Darmstadt und Mainz) weitere Punkte sammeln wird. Zwar haben acht von zehn Teams, die in dieser Spielzeit München besucht haben, vier bis fünf Gegentore hinnehmen müssen. Doch selbst wenn die Berliner in ähnlicher Weise unter die Räder kämen, dürften Herthas Verantwortliche die Jahreshauptversammlung im West-Berliner ICC am Montag ohne die sonst üblichen Nörjeleien überstehen: "Es ist wieder angenehm, Herthaner zu sein", sagt Dardai, seit 5. Februar im Amt.

Damals, als er den Job von Jos Luhukay übernahm und nebenbei noch die ungarische Nationalelf trainierte, waren die Tage düster. Doch die Fußball-Stimmung in der Stadt hat sich gewandelt. Sogar gegen Hoffenheim war das in den Wintermonaten oft beklemmend graue Olympiastadion am vergangenen Sonntag passabel gefüllt, trotz Schneefalls kamen 37 000 Menschen zu Besuch. Gegen attraktivere Gegner - also alle anderen aus der Liga - kamen bislang durchschnittlich 50 000 Anhänger: "In Berlin wächst so etwas wie Fußball-Euphorie", sagt Dardai.

Am Ende der vergangenen Saison, die Hertha auf dem 15. Tabellenplatz abschloss, war das nicht mal im Ansatz absehbar. Erst jetzt offenbart Dardai, dass er nach der Amtsübernahme von Luhukay anfangs einen Stil praktizieren ließ, der seinem eigenen ästhetischen Empfinden widersprach. "Hätte ich Fußball spielen lassen, wären wir abgestiegen", sagt Dardai mit fast beklemmender Überzeugung.

In der Sommerpause aber formulierte er den Anspruch, unter den Berlinern wieder Interesse für den Stadionbesuch zu wecken; mit "genießbarem Fußball, Kurzpassspiel, einer eigenen Philosophie, über die in der Stadt gesprochen wird". Dardai, der als früherer Hertha-Profi tief in der Stadt verwurzelt ist, räumt zwar ungefragt ein, dass Hertha gegen die Großen der Liga "nicht mal einen halben Punkt geholt" hat. Andererseits lassen sich Herthas schlechte Spiele an einer Hand abzählen, und selbst die gingen nicht alle verloren.

Der Grund: Hertha hat eine Statik, die nicht einfach auszuhebeln ist, und an mentaler Stärke gewonnen; die Abstiegsangst hängt ihr nicht mehr in den Kleidern. Gegen Hoffenheim gelang den Berlinern gar das Kunststück, ohne eigenen Torschuss zu siegen, der Hoffenheimer Eugen Polanksi traf ins eigene Tor: "Plusminus zwei Punkte haben wir unsere Zähler alle verdient, das war kein Zufall", sagt Dardai.

Im Gegenteil. Dardai und seine Assistenten Rainer Widmayer und Admir Hamzagic haben Herthas Fußball konzeptionell umgestaltet. Hertha spielt geduldiger, verteidigt etwa zehn Meter höher und versucht die Zufallsfaktoren so beherrschbar wie möglich zu machen. Dass dies bislang ganz vernünftig gelungen ist, liegt auch an einer qualitativen Verbesserung des Kaders. Der in der Vergangenheit für seine Transferpolitik oft gehänselte Manager Michael Preetz zeigte sich bei der Akquise neuer Bediensteter derart treffsicher, dass ihn das Fachmagazin kicker vor wenigen Wochen zum Einkaufskönig der Bundesliga kürte. Hertha holte spielintelligente Kicker wie den tschechischen Mittelfeldmotor Vladimir Darida vom SC Freiburg, den technisch vielleicht versiertesten unter den Laufwundern der Liga; dazu den ablösefreien, aktuell verletzten Außenbahnspieler Mitchell Weiser vom FC Bayern München, Stürmer Vedad Ibisevic vom VfB Stuttgart, der den einst glücklosen Saolomon Kalou entlastet, sowie den umschwärmten Innenverteidiger Niklas Stark (vom 1. FC Nürnberg). "Ich habe nur das Anforderungsprofil abgegeben", sagt Dardai, der seinen früheren Mitspieler Preetz auffallend häufig lobt.

Auch das ist ein Teil der Erklärung für die entspannte Stimmung, die in Berlin herrscht: Dardai nimmt sie irgendwie alle mit, erst recht seine Spieler: "Ich versuche, jeden Tag mit jedem ein persönliches Wort zu reden." Nur um einen, Per Skjelbred, hat er zuletzt einen Bogen gemacht, obwohl der auf dem Feld jene zentrale Position bekleidet, die Dardai einst selbst bei Hertha ausfüllte. Doch der Norweger Skjelbred war im EM-Playoff an Ungarn gescheitert: "Da habe ich ihn besser ein wenig in Ruhe gelassen", sagt Dardai.

© SZ vom 28.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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