Serie "Was ist deutsch?":Deutschland ist und bleibt mein Land

Merkel Visits Heidenau Asylum Shelter Following Violent Protests

Zehntausende Deutsche gehen regelmäßig auf die Straße, brüllen "Wir sind das Volk" und demonstrieren gegen die Islamisierung des Abendlandes.

(Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Mein Vater kam aus Anatolien und wollte nie bleiben. Ich fühlte mich immer als Deutsche - auch wenn das nicht alle akzeptieren.

Von Seda Basay-Yildiz

Deutsche grölen "Ausländer raus" und zünden Flüchtlingsheime an. Wenn das "deutsch" ist, dann will ich keine Deutsche sein! Deutsche haben zehn Menschen, neun von ihnen mit Migrationshintergrund, exekutiert, und die Sicherheitsbehörden hatten nichts Besseres zu tun, als die Hinterbliebenen der Opfer jahrelang zu verdächtigen. Dabei waren es rassistisch motivierte Morde des NSU.

Zehntausende Deutsche gehen regelmäßig auf die Straße, brüllen "Wir sind das Volk" und demonstrieren gegen die Islamisierung des Abendlandes. Und nach den schrecklichen Vorfällen in Paris am 13. November diskutieren wir darüber, ob wir nicht unsere Grenzen schließen und den Flüchtlingsstrom begrenzen sollen. Für all das schäme ich mich. Als Deutsche.

Wann sollen wir über Haltung reden, wenn nicht jetzt?

Zum ersten Mal identifiziere ich mich mit den Worten von Angela Merkel: "Dann ist das nicht mein Land". Wann sollen wir über Haltung reden, wenn nicht jetzt?

Ich mache mir immer mehr Gedanken über den Begriff der Heimat und das Gefühl der Verbundenheit mit Deutschland. Vermutlich deswegen, weil ich mich in letzter Zeit immer fremder in Deutschland fühle. Wo bin ich eigentlich zu Hause, wo ist meine Heimat? Bis vor ein paar Jahren habe ich über diese Fragen nie nachgedacht.

Seda Basay-Yildiz

Seda Basay-Yildiz, 39, vertritt im Prozess gegen den rechtsradikalen NSU die Familie eines Mordopfers, des Blumenhändlers Enver Şimşek.

(Foto: privat)

Aber meine Unbeschwertheit ist verloren gegangen. Ich fühle mich zeitweilig in Deutschland nicht mehr wohl und damit auch nicht mehr zu Hause. Menschen, die ich zu meinem engen Bekanntenkreis gezählt habe, outeten sich als Pegida-Anhänger. Oder zum NSU-Terror fällt ihnen nur ein, dass so etwas eben passiert, als ob es das Normalste der Welt wäre. Vor ein paar Monaten rief mich ein Bekannter an, weil in seiner Nachbarschaft Flüchtlinge einziehen sollen und er rechtliche Schritte dagegen einleiten wolle. Was ich ihm als Juristin raten könne. Ich frage mich, wie er darauf kommt, dass ausgerechnet ich ihm einen Rat dazu geben könnte. Endlich habe auch ich begriffen, dass ich mich positionieren muss.

Früher habe ich bei Diskussionen über Ausländer- und Asylpolitik in meinem Bekanntenkreis das Thema gewechselt, weil ich mich nicht mit jedem streiten wollte. Heute lasse ich es bei Diskussionen gerade darauf ankommen, dass dieser Streit entsteht. Ich möchte meine Zeit nicht mehr mit Menschen vergeuden, die solche Gedanken äußern und dann nicht verstehen, warum ich ihrer Ansicht nach überzogen reagiere - denn ich sei doch nicht gemeint, wenn sie von Islamisierung, Schließung der Grenzen und der Rückführung von Ausländern sprechen.

Ich denke über Alternativen zu Deutschland nach und komme zu der Erkenntnis, dass es für mich persönlich keine gibt.

Auch nach 50 Jahren keine Heimat? Unbegreiflich!

Mein Vater kam 1964 aus Anatolien nach Deutschland. Als junger Mann mit Hoffnungen, Träumen und Erwartungen. Er hat seine Familie und Heimat verlassen, um in Deutschland Geld zu verdienen. Dies alles passierte lange bevor ich geboren wurde. Meine Eltern haben sich in Deutschland kennengelernt. Auch meine Mutter kam mit vielen Hoffnungen hierher. Gemeinsames Ziel beider war es, mit genug erspartem Startkapital in die Türkei zurückzukehren.

Mein Vater hätte sich nie vorstellen können, dass er nach 51 Jahren immer noch hier in Deutschland lebt. Genauso wenig hätte er ahnen können, dass wir, seine Kinder, eine andere Vorstellung von dem Begriff "Heimat" und von Deutschland haben als er. Eines wussten meine Eltern genau: dass die Türkei ihre Heimat ist. Auch 50 Jahre später - wohlgemerkt nach 50 Jahren Leben und Wohnen in Deutschland - hat sich an diesem Umstand nichts geändert. Mir ist das unbegreiflich.

Wir reden in letzter Zeit sehr oft über die ersten Jahre in Deutschland und wie daraus 51 Jahre geworden sind. Und wir müssen darüber reden, sagt mein Vater, wo er seine letzte Ruhestätte finden will. Obwohl er mehr als zwei Drittel seines Lebens in Deutschland verbracht hat und mittlerweile alle seine in der Türkei gebliebenen Geschwister gestorben sind, will mein Vater in der Türkei, in seinem Heimatdorf, seine letzte Ruhe finden. Dies sagt auch meine Mutter. Auch das ist mir unbegreiflich.

Nie in Deutschland angekommen

Ich muss respektieren, dass für meine Eltern und für andere sogenannte Gastarbeiter der ersten Generation Heimat immer noch die Türkei ist. Das liegt meines Erachtens daran, weil die meisten - und dazu gehören auch meine Eltern - in Deutschland nie angekommen sind und, wenn man ganz ehrlich ist, es auch nie versucht haben. Es ist die Sprache, die sie nie richtig erlernt haben und auch nie lernen wollten, und auch die Menschen hier, mit denen sie nie richtig warm geworden sind.

Sie haben es aber auch nie versucht - das geben die meisten selbst zu - , weil sie den Aufenthalt in Deutschland als vorübergehend angesehen haben. Warum die Sprache lernen und Freundschaften mit Deutschen schließen, wenn man nicht bleiben will? Meine Eltern und andere sagen, sie seien für uns, die Kinder, hiergeblieben. In unserem Fall für mich und meinen Bruder. Für eine bessere Zukunft. Aber ist die Zukunft wirklich eine bessere geworden?

Ich wurde in Marburg an der Lahn geboren. Als Teenager war für mich klar, dass Marburg meine Heimat ist. Später ging ich aus Marburg fort, um in einer anderen Stadt zu studieren. Wenn ich an den Wochenenden oder den Semesterferien nach Marburg kam und von Weitem das Landgrafenschloss - für mich das Wahrzeichen Marburgs - sah, wusste ich, dass ich zu Hause bin. Ich kannte nichts anderes. Natürlich die Türkei aus dem Sommerurlaub. Sehr schöne Erinnerungen habe ich daran, ich liebe meine "türkische" Familie, aber ich war immer froh, wieder zu Hause in Deutschland, in Marburg, zu sein. Urlaub ist Urlaub und zu Hause eben zu Hause.

"Zu Hause", "Heimat" - das ist so wichtig, weil man sich sicher und geborgen fühlt, weil man dort hingehört. Dies macht einen Teil der Identität eines Menschen aus. Wenn ich im Ausland gefragt werde, woher ich komme, sage ich: Deutschland. Nie ist mir der Gedanke gekommen, etwas anderes zu antworten. Nur ist mir dieses Gefühl von Deutschland als Heimat in den letzten Jahren in Abrede gestellt worden.

Vielleicht sollte ich einfach in der Türkei leben

Es gibt beispielsweise Menschen, die fragten: "Wo kommen Sie her?" und mit der Antwort, dass ich aus Marburg komme, eben nicht zufrieden waren. Das Seltsame war aber auch, dass ich im Familienurlaub in der Türkei ebenfalls immer "die" Deutsche war. In Deutschland wurde ich nicht für eine Deutsche gehalten, in der Türkei aber sehr wohl. Vielleicht sollte ich einfach in der Türkei leben. Für mich selbst war die Antwort eigentlich ganz klar. Eigentlich.

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als der NSU enttarnt wurde. Ich war im Auto unterwegs und hörte Radio. Konnte nicht fassen, wie so etwas möglich war. An diesem Tag und in den darauffolgenden Wochen ging mein Vertrauen verloren.

Auf einmal kam das Gefühl auf, nicht dazuzugehören

Şimşek, Özüdoğru, Taşköprü, Yașar, Kılıç, Turgut, Kubaşık, Yozgat, Boulgarides heißen die Mordopfer des NSU, die nur deswegen umgebracht wurden, weil sie - einige trotz deutscher Staatsangehörigkeit - eben Ausländer waren. Die Täter wollten damit zum Ausdruck bringen, dass diese Menschen in Deutschland nicht willkommen sind, und wenn sie nicht freiwillig Deutschland verlassen, dies mit ihnen passieren könne. Die Botschaft ist angekommen. Jedenfalls bei mir.

Das Gefühl zu haben, nicht dazuzugehören, egal, was man tut und wie integriert man ist, wurde stärker. Das Gefühl, sich nicht sicher zu fühlen, und auch den Schutz von Polizei und Justiz nicht für sich in Anspruch nehmen zu können, ebenfalls. Kann sich jemand vorstellen, was das bedeutet? Gerade für jemanden wie mich, die Jura studiert hat und den Rechtsstaat verteidigt?

Können wir uns in Deutschland eigentlich erlauben, uns vorwerfen zu lassen, dass wir Menschen nicht schützen können? Dass ein Land wie Deutschland dabei schändlich versagt hat? Was haben wir aus dieser Misere gelernt? Leider nichts. Es fällt uns immer noch schwer, über strukturellen Rassismus zu sprechen.

Es muss in diesem Land möglich sein, Umstände anzuprangern, ohne einen Stempel aufgedrückt zu bekommen, dass immer nur geklagt wird. Man müsse doch auch dankbar sein, höre ich oft, wenn ich mahne und kritisiere. Wofür soll ich dankbar sein? Dafür, dass ich mit eigener Leistung mein Studium absolviert habe und Rechtsanwältin geworden bin?

In der Türkei ist es auch nicht besser, höre ich oft. - Ja und? Was hat das mit mir zu tun?

Als mir ein paar Monate nach der Enttarnung des NSU das Mandat angetragen wurde, Familie Şimşek im NSU-Prozess zu vertreten, habe ich sofort angenommen. Ich wollte Antworten, für meine Mandanten und auch für mich. Leider hat das Studium der Akten nicht dazu beigetragen, das Vertrauen in den Rechtsstaat und in unsere Ermittlungsbehörden wiederzuerlangen. Ganz im Gegenteil.

Ich glaube, die Angehörigen der Mordopfer des NSU haben allen Grund, an diesem Staat zu zweifeln. Wie kann man mit dieser Erkenntnis weiterhin in Deutschland leben? Ich bewundere das.

Mein Vater sagt immer: "Man darf mit den Verstorbenen nicht sterben." Ein türkisches Sprichwort. Es heißt sinngemäß, dass das Leben weitergeht. Aber tut es das wirklich? Und wenn ja, um welchen Preis?

Am meisten ärgert es mich, dass ich mir, wenn ich in Deutschland Kritik zu einigen Themen äußere, immer wieder anhören muss, dass es in der Türkei auch nicht besser ist. Ja und? Was hat das mit mir zu tun? Wieso muss ich mich eigentlich für die Politik in der Türkei rechtfertigen? Ich verstehe es nicht und werde es wahrscheinlich nie verstehen.

Das Klima wird rauer

Die Ereignisse von Paris haben mich sehr betroffen und wütend gemacht. Oh nein, dachte ich mir. Nicht schon wieder. Wieder sind Menschen sinnlos und angeblich in Namen auch meiner Religion umgebracht worden. Und schon wieder wird es so sein, dass ich mich für meine Religion rechtfertigen muss. Warum überhaupt, frage ich mich in solchen Augenblicken. Was hat denn Terror mit Religion zu tun? Ja, ich schäme mich auch für diese Menschen, die im Namen der Religion unschuldige Menschen ermorden.

Das Klima in Deutschland wird rauer. Schon werden wieder alle über einen Kamm geschert, und die Flüchtlinge, die vor genau diesem Terror geflüchtet sind, sollen es ausbaden. Abscheulich, dass auf dem Rücken dieser Menschen Politik betrieben wird.

Aber Deutschland ist und bleibt mein Land, und ich bleibe eine Deutsche.

Serie "Was ist deutsch?": Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: Die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz.

Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: Die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz.

Serie
Was ist deutsch?

Die Serie "Was ist deutsch?" behandelt Facetten und aktuelle Fragestellungen deutscher Identität. Erschienene Artikel:

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: