Historikerin:Der Antisemitismus der anderen

Historikerin: Juliane Wetzel arbeitet am Zentrum für Antisemitismusforschung. Etwa 20 Prozent der Deutschen hätten eine latent antisemitische Haltung, sagt sie.

Juliane Wetzel arbeitet am Zentrum für Antisemitismusforschung. Etwa 20 Prozent der Deutschen hätten eine latent antisemitische Haltung, sagt sie.

(Foto: oh)

Juliane Wetzel warnt davor, das Problem in Deutschland den Muslimen zuzuschieben. Das lenke von anderen, weit verbreiteten Formen der Judenfeindlichkeit ab

Interview von Franziska Brüning, Berlin

Die Historikerin Juliane Wetzel arbeitet in Berlin am Zentrum für Antisemitismusforschung. Sie fürchtet, dass die Flüchtlingskrise ein willkommener Anlass sein könnte, das Problem des Antisemitismus auf Muslime abzuschieben.

SZ: Viele fürchten, dass mit den Flüchtlingen mehr Israelfeindlichkeit und Antisemitismus nach Deutschland importiert werden. Ist diese Angst berechtigt?

Juliane Wetzel: Ich kann diese Angst durchaus nachvollziehen, weil man weiß, dass in diesen Ländern eine antiisraelische und antizionistische Haltung indoktriniert wird. Ob diese Angst aber berechtigt ist, lässt sich schwer sagen, weil man gar nicht weiß, wie verbreitet diese Haltung unter den Flüchtlingen tatsächlich ist. Ich glaube, dass die Flüchtlinge im Moment ganz andere Probleme haben. Man sollte sehr vorsichtig mit dem Vorwurf sein, dass wir uns mit den Flüchtlingen Antisemiten ins Land holen, zumal wir dabei vergessen, dass wir in Deutschland das Problem des Antisemitismus bereits haben.

Welche Formen des Antisemitismus gibt es derzeit in Deutschland?

Der sogenannte Rassenantisemitismus, der Ende des 19. Jahrhunderts aufkam und in den Holocaust mündete, spielt keine große Rolle mehr. Zentral ist heute der sekundäre Antisemitismus. Darunter versteht man den Antisemitismus wegen Auschwitz. Dazu gehören der Wunsch, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, die Verdrängung von Verantwortung und die Schuldzuschreibung an die Juden, man könne nicht zur Normalität zurückkehren, weil die Juden einen ja immer wieder an den Holocaust erinnern würden. Die zweite Form, die ganz aktuell ist und jetzt auch bei der Flüchtlingsthematik wieder auftaucht, ist der sogenannte israelbezogene Antisemitismus oder Antizionismus. Damit ist keine legitime Kritik an Israel gemeint, sondern etwa die Gleichsetzung der israelischen Politik mit dem Nationalsozialismus.

Welche Form fürchten Sie am meisten?

Ich sehe mit Sorge, was sich in der gesamten bundesdeutschen Gesellschaft tut, etwa, dass man den Muslimen und Flüchtlingen antisemitische Vorurteile zuschreibt und dabei ganz vergisst, dass 90 Prozent der antisemitisch motivierten Straftaten von Rechtsextremen begangen werden. Hinzu kommt der Antisemitismus, der in der Bevölkerung wabert. Etwa 20 Prozent der Deutschen haben eine latent antisemitische Haltung. Die meisten von ihnen würden das allerdings vehement abstreiten, wenn man sie direkt darauf ansprechen würde, weil die meisten unter Antisemitismus den Rassenantisemitismus der Nazi-Zeit verstehen. Die subtilen Formen des Antisemitismus werden gar nicht erkannt und kommen sogar im linken politischen Spektrum vor.

Wird das Thema vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise instrumentalisiert?

Natürlich! Das ist eine willkommene Form für die Mehrheitsgesellschaft, die Problematik des Antisemitismus auf die Muslime abzuschieben und zu glauben, in der deutschen Gesellschaft gebe es dieses Problem nicht. Die Islamfeindlichkeit nimmt in Deutschland deutlich zu. Ich sehe auch schon, dass die Themen Antisemitismus und Flüchtlinge so vermengt werden, dass die Mehrheitsgesellschaft sich dies zu Nutze macht als vorgeschobene Begründung, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen.

Wie soll die Gesellschaft mit der Angst umgehen, die Flüchtlinge könnten den Antisemitismus in Deutschland anheizen?

Es ist wichtig, diese Problematik zu sehen, aber im Moment stehen doch vorrangig andere Themen an. Die Flüchtlinge müssen untergebracht werden, Deutschkurse und Integrationskurse bekommen. Langfristig muss das Wissen um die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust vermittelt werden, genauso wie die Historie des Nahostkonfliktes Thema sein sollte.

Müssen Lehrer und Ausstellungsmacher beim Thema NS-Zeit mehr aktuelle Bezüge herstellen und pädagogische Zugänge für die Migrationsgesellschaft schaffen?

Auf jeden Fall. Diese Themen müssen so aufbereitet werden, dass sie für Schüler unterschiedlichster Herkunft zugänglich sind. Es ist erschreckend, dass die aktuellen Formen des Antisemitismus vielen Lehrern gar nicht bewusst sind. Wenn antisemitische Sprüche auf dem Schulhof aufgearbeitet werden sollen, bieten viele Lehrer nur den Besuch der nächsten KZ-Gedenkstätte an. Die verbinden mit dem Begriff Antisemitismus immer noch nur den Nationalsozialismus. Man sollte nicht glauben, dass man Schüler für das Thema sensibilisiert, wenn man mit ihnen eine Gedenkstätte besucht. Historisch-politische Bildung in Schulen und Ausstellungen ist wichtig, aber nur bedingt geeignet, um aktuellen Formen des Antisemitismus zu begegnen.

Manche sehen in der Flüchtlingskrise auch eine Chance, eine neue Basis für einen jüdisch-muslimischen Dialog zu finden. Ist das ein zu hoch gestecktes Ziel?

Nein, diese Chance ist absolut da und muss genutzt werden. Man muss offen für verschiedene Möglichkeiten sein, eine Basis für ein friedliches Zusammenleben zu schaffen. Der jüdisch-muslimisch-christliche Dialog ist ein ganz wichtiges Element, allerdings nicht mit dem Ziel, die Muslime auszuschließen, wie es etwa bei dem Ruf nach einer christlich-jüdischen Leitkultur offenbar wird. Da kann man sich doch nur an den Kopf greifen und sich fragen, wo denn diese Leitkultur zwischen 1933 und 1945 war. Wir sind längst ein Einwanderungsland und müssen lernen, dass auch wir etwas für die Integration der Menschen tun müssen.

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