Kalifornien-Kolumne:Unsere obdachlosen Nachbarn

Bea Wild -  San Francisco Kolumne

San Francisco ist auf den ersten Blick eine Schönheit. Wer genauer hinsieht, entdeckt die Schattenseiten.

(Foto: Illustration: Jessy Asmus/SZ.de)

San Francisco ist die Stadt des Lichts, zumindest für Reiche und Gesunde. Die anderen leben auf der Schattenseite.

Von Beate Wild, San Francisco

Auf der Straße vor unserem Haus wohnen Derek und Giorgia. Richtig gelesen: vor unserem Haus. Eine Wohnung können sich die beiden nicht leisten.

San Francisco ist eine Stadt wie aus dem Bilderbuch - eigentlich. Doch jedem Besucher fallen sofort die vielen Obdachlosen auf. Etwa 7000 Menschen leben hier auf der Straße, vor allem im Zentrum rund um die Market Street, aber auch in anderen Stadtteilen wie im legendären Hippie-Viertel Haight-Ashbury oder im Startup-Ghetto SoMa. An manchen Ecken, wo besonders viele Homeless-Camps sind, riecht es streng nach Urin - eines der großen Themen bei der Bürgermeisterwahl Anfang November.

Die hohe Obdachlosigkeit ist ein trauriges Thema, mit dem viele Städte in Kalifornien zu kämpfen haben. In Los Angeles sind fast 10 000 Menschen ohne Wohnung, auch in kleineren Strandorten wie Santa Cruz leben Leute auf den Straßen der Innenstädte. Die Obdachlosenheime können nur begrenzt Schlafplätze zur Verfügung stellen und kostenlose Mahlzeiten verteilen.

Ronald Reagan kappte die Hilfen für psychisch Kranke

Manchmal helfe ich im Next Door Shelter, einem der Heime, bei der Essensausgabe. Jeden Abend stehen dort mehr als hundert Menschen in der Schlange. Junge, alte, weiße, farbige, Männer wie Frauen. Das Essen ist einfach: Reis mit Bohnen, Kartoffeln, manchmal Nudeln, ein wenig Salat und als Nachtisch ein Stück Kuchen oder Obst. Die Mahlzeit wird direkt auf ein ausgebleichtes Plastiktablett geklatscht. "Thank you, M'am", murmeln die dankbaren Abnehmer verschämt, wenn ich das Essen so über die Theke reiche.

Die angesagten Slow-Food-Restaurants, die Organic-Gerichte ab 30 Euro aufwärts anbieten, sind da weiter weg als nur ein paar Blocks.

Viele Obdachlose, wie Giorgia aus meiner Straße, leiden unter "mental illness", unter psychischen Problemen. Eine Krankenversicherung haben sie nicht, weshalb sie zu keinem Arzt gehen können. Manchmal brabbeln sie unverständliches Zeug vor sich hin. Oft betäuben sie sich mit ein paar Dosen Billigbier. Von staatlicher Seite können sie keine Hilfe erwarten.

Ronald Reagan, der von 1967 bis 1975 in Kalifornien Gouverneur war, strich sämtliche staatliche Förderungen für psychisch Kranke und schloss alle subventionierten Psychiatrien. Mit ihren Problemen sind diese Menschen allein gelassen. Oft kommen Drogen und Alkohol ins Spiel, wobei man nie weiß, was zuerst da war: die Obdachlosigkeit oder die Sucht - ein Teufelskreis.

Es gibt auch so etwas wie einen Helden unter den Obdachlosen: Ronnie Goodman. Doch auch dieser Star strahlt nicht, nicht in San Francisco. Nachts schläft er unter dem Freeway, tagsüber kommt er in eine Galerie in unserer Straße und malt dort seine Bilder. Ronnie ist Künstler und Läufer. Seit er im vergangenen Jahr beim San Francisco Marathon startete und die Zeitungen groß über ihn berichteten, ist er in San Francisco bekannt wie ein bunter Hund. Ab und zu gelingt es ihm, eines seiner Bilder zu verkaufen. Davon leistet er sich neue Laufschuhe. Für ein Zimmer reichen seine Einkünfte nicht aus in der teuersten Stadt der USA, in der ein paar Blumen im Haar allein nicht mehr glücklich machen - und wohl nie machten.

Kalifornien-Kolumne
Neues aus San Francisco
Illustration: Jessy Asmus/ Sz.de

In "USA, Land der Fettnäpfchen" hat Autorin Beate Wild über Stolpersteine beim Ankommen in den Vereinigten Staaten berichtet. In der Kolumne "Neues aus San Francisco" schreibt sie über das Leben in Kalifornien, das für Zugereiste mitunter gewöhnungsbedürftig ist:

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