Dem Geheimnis auf der Spur:Der Mandela-Effekt

Dem Geheimnis auf der Spur: Einige Fans schwören, dass Darth Vader in dieser "Star Wars"-Szene zu Luke Skywalker den bekannten Satz "Luke, ich bin dein Vater" sagt. Stimmt aber nicht.

Einige Fans schwören, dass Darth Vader in dieser "Star Wars"-Szene zu Luke Skywalker den bekannten Satz "Luke, ich bin dein Vater" sagt. Stimmt aber nicht.

(Foto: Lucasfilm)

Das war doch alles ganz anders: Die menschliche Erinnerung ist so behütet wie trügerisch. Manchmal kann sie zu aberwitzigen Erklärungsversuchen verleiten. Steckt ein System hinter den falschen Erinnerungen?

Von Tobias Sedlmaier

Unwiderlegbare Tatsachen zu akzeptieren, und sei man noch so gegenteiliger Ansicht, ist eine Tugend, die manchen Menschen schwerfällt. Die menschliche Erinnerung ist so behütet wie trügerisch, manchmal kann selbst ein verifizierender Zugriff auf die Archive des gesicherten Wissens, also Lexika und Enzyklopädien, den überzeugten Meinungsfundamentalisten nicht umstimmen. Sätze wie "Die USA haben 52 Bundesstaaten, das weiß ich noch aus der Schule!", oder "Ich habe die ,Star Wars'-Filme ein Dutzend Mal gesehen, Darth Vader hat ,Luke, ich bin dein Vater' gesagt", werden oft selbstsicher in den Raum geworfen. Tatsächlich beträgt die Anzahl der Bundesstaaten 50 und Darth Vader spricht seinen Sohn nicht namentlich an.

Manche klammern sich so fest und steif an Erinnerungen, die aus der eigenen Kindheit und Jugend stammen, wie Ertrinkende an die rettende Planke - wer will schon als vergesslicher Ignorant von Allgemeinwissen und Populärkultur dastehen? Dabei ist es wohl jedem schon einmal passiert, ein Ereignis, einen Satz, ein Bild ganz anders im Gedächtnis zu haben als sonst üblich. Man kann auf solche Fehlleistungen mit einem Achselzucken reagieren, ironisch auf einen Fehler in der Matrix verweisen und sein Leben ganz normal weiterführen, ein paar falsche Zitate aus berühmten Filmen sind da kein großer Störfaktor. Oder man lässt sich auf die Annahme ein, ja, ist sogar überzeugt davon, dass ein System hinter den scheinbar falschen Erinnerungen steckt.

In ihrer Erinnerung war Nelson Mandela in den Achtzigern einsam im Gefängnis gestorben

So erging es der Geisterjägerin und Autorin Fiona Broome, die vor einigen Jahren auf einer Fantasy-Tagung feststellte, dass andere Teilnehmer nahezu die gleichen Erinnerungen wie sie selbst an den südafrikanischen Apartheidsgegner und späteren Präsidenten Nelson Mandela hatten. In ihrer gemeinsamen Wahrnehmung wurde Mandela niemals zum Staatsoberhaupt gewählt, sondern starb in den Achtziger jahren einsam in seiner Gefängniszelle. Broome selbst konnte sich sogar an Einzelheiten der Begräbniszeremonie erinnern.

Sie beschrieb diese Anomalie auf ihrem Blog und taufte sie Mandela-Effekt: vermeintlich echte Erinnerungen, die allerdings völlig von der historisch dokumentierten Realität abweichen. Bei ihren weiteren Nachforschungen stellte sie fest, dass Mandela nicht der einzige Scheintote im Geiste war. Auch andere prominente Figuren, sowohl fiktiver als auch historischer Natur, waren in so manch einer Erinnerung lange schon tot. Beispielsweise der Baptistenpastor Billy Graham, dessen Beerdigung laut Broome angeblich ein TV-Ereignis war - der aber bis zum heutigen Tag noch am Leben ist. Oder die Figur des Commander Chakotay in der TV-Serie "Star Trek", der in einer Episode angeblich sein frühes Ende findet. Überprüft man die entsprechende Folge heute auf DVD, ist davon keine Spur zu sehen.

2012 fügte ein Physikstudent, der unter dem Namen Reece bloggt, dem Rätsel eine neue Facette hinzu: Er war der festen Überzeugung, dass sich die Schreibweise der in den USA populären Kinderbuchreihe "The Berenstain Bears" von Stan und Jan Berenstain seit seiner Kindheit geändert hätte; früher wäre sie mit "Berenstein" betitelt gewesen. Ein gewaltiger "Stein" des Anstoßes für ihn und all diejenigen, welche die moralgespickten Kurzabenteuer der putzigen Grizzly-Familie verschlungen hatten, seit Dr. Seuss das erste Buch 1962 herausgab.

Also stellte Reece die Theorie eines vierdimensionalen Universums auf, dessen vierte Achse, die Zeit, eine rein imaginäre ist. Das kollektive Hirngespinst, für das die paranormalen Experten noch keine rechte Lösung wussten, wurde zu einer rudimentären Auslegung der Quantenmechanik, welche die Existenz von Parallelwelten schon seit mehr als einem halben Jahrhundert physikalisch zu erforschen sucht. Vereinfacht gesagt eröffnet in einem solchen Multiversum jedes Ereignis eine neue Zeitlinie und damit einen eigenen Kosmos für sich. Manchmal stößt diese abweichende Realität auf die Wirklichkeit und manifestiert sich in den abweichenden Erinnerungen. Diese wären somit ein Beweis, dass es mehrere Varianten unserer Existenz gibt. Die Vorstellung von Paralleluniversen ist inzwischen eine der Haupterklärungen für die Anhänger des Mandela-Effekts.

Skeptiker halten dem entgegen, dass vor allem die Sehnsucht nach einem größeren Ganzen, nach einem metaphysischen Erlebnis, den Mandela-Effekt befeuert. Auch die Erkenntnisse aus der Neurowissenschaften taugen nicht zu seiner Bestätigung, im Gegenteil: Erinnerung ist immer durchdrungen von Unsicherheit und Obskurität, ein Konstrukt geprägt von gesellschaftlichem Umfeld und persönlichen Befindlichkeiten. Sie ist, wenn man so will, ein Auftragswerk, das unser Gehirn nach unseren Wünschen, Sehnsüchten und Traumata gestaltet.

Vielleicht aber ist der Mandela-Effekt nur die konsequente Reaktion auf kindliche Erinnerungsarbeit: Mit einem solchen Modell kann man dem Gedächtnis, das einen schließlich schon so oft im Stich gelassen hat, ein Schnippchen schlagen. Das Problematische daran ist auch weniger die Abstrusität der Annahme - denn wer könnte etwas Gesichertes zu Paralleluniversen sagen, nicht einmal die Quantenphysik vermag dies bisher -, sondern der verzweifelte Versuch, bestimmte Phänomene auf Biegen und Brechen erklären zu wollen. Zur Not eben irrational.

Manchmal könnte auch ein dritter Weg aus der Misere gegen die falschen Erinnerungen helfen. Wie schreibt der Ethnologe Marc Augé so treffend: "Man muss die nahe Vergangenheit vergessen, um die ferne Vergangenheit wiederzufinden."

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