Flüchtlinge in Deutschland:Nicht alle aufnehmen. Aber allen helfen

Flüchtlinge in Deutschland: Ein Appell an die Nächstenliebe: ein Gastbeitrag von Kardinal Reinhard Marx.

Ein Appell an die Nächstenliebe: ein Gastbeitrag von Kardinal Reinhard Marx.

(Foto: AFP)

Was ist mit der Würde des eine Million und ersten Zuwanderers, wenn die Obergrenze bei einer Million liegt? Deutschland ist auch denjenigen verpflichtet. die es nicht ins Land lässt, sagt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz.

Gastbeitrag von Reinhard Marx

Nicht jeden Tag hört man im Plenarsaal des Deutschen Bundestages Verse aus der Bibel. Am 25. November ist es jedoch so. Der Redner unterstreicht sie mit großem Nachdruck: "Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen."

Es ist der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Dietmar Bartsch, der bei der Generaldebatte zur Flüchtlingspolitik den Evangelisten Matthäus bemüht. Das Zitat stammt aus der Gerichtsrede Jesu. Der Passus endet mit dem Satz: "Was ihr für den geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." Bibelworte als politisches Argument, vorgetragen von einem Vertreter der Linken? Ungewöhnlich? Dass sich die wohl eher kirchenkritische Linke auf das christliche Erbe beruft, überrascht nur auf den ersten Blick. Über Jahrhunderte hinweg haben Christentum und Bibel Europas Denken und Handeln beeinflusst.

Die Menschenwürde in Politik übersetzen

Auch unser Begriff der Menschenwürde ist von daher bestimmt. Das christliche Menschenbild leitet die Würde des Menschen aus dessen Gottesebenbildlichkeit ab. Jeder Einzelne ist Geschöpf und Ebenbild Gottes. Jeder! Die katholische Soziallehre spricht von der Universalität der Menschenwürde. "Die Gottesebenbildlichkeit begründet eine fundamentale Gleichheit: Allen Menschen kommt die gleiche Würde zu - ungeachtet ihrer Nationalität, ihres Geschlechts oder ihres Alters, ungeachtet ihrer Gesundheit oder Leistungskraft", so hat es der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder 2010 zusammengefasst. Besser könnte man es kaum sagen.

Diese Erkenntnis in Politik zu übersetzen, bleibt indes eine je neue Herausforderung. Etwa wenn über die Festsetzung einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen gestritten wird. Was wird aus der Würde des, sagen wir, eine Million und ersten Zuwanderers, wenn man zuvor die Grenze bei einer Million gezogen hat?

Freilich weiß auch ich, dass wir nicht jeden der 60 Millionen Flüchtlinge auf der Welt aufnehmen können. Wir dürfen die Sozialsysteme und die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft nicht überfordern. Aber unsere Verantwortung kann nicht auf den Nahbereich beschränkt werden. Abschiebung kann nicht bedeuten, diese Menschen auch aus unserer Sorge und Mitverantwortung abzuschieben. Wir sind auch denen verpflichtet, die wir nicht aufnehmen können oder die zu Hause in Krieg und Elend bleiben. Ebenso wenig können wir einfach sagen: Uns sind die 1,15 Millionen Menschen gleichgültig, die in den Libanon geflohen sind. Oder die 650 000, die Jordanien aufgenommen hat.

Der Westen bekommt die Rechnung für seine Politik

Es ist nicht nur ein humanitärer Skandal, dass das UN-Flüchtlingshilfswerk die Mittel für diese Notleidenden in den Lagern kürzen musste, weil der reiche Westen nicht mehr Geld bereitstellen wollte. Darüber hinaus ist dies Versäumnis auch kurzsichtig. Wer den Menschen vor Ort nicht hilft, der setzt neue Fluchtbewegungen in Gang.

Überhaupt ist eine vorsorgende Politik von Nöten. Der Westen bekommt derzeit die Rechnung dafür präsentiert, dass er eine solche über Jahrzehnte versäumt hat, etwa im Nahen Osten. So ist der Irak-Krieg eine der Ursachen der jetzigen Krise. Und der islamische Fundamentalismus wurde aus Ländern weltweit gefördert, die als Freunde des Westens gelten.

Vorsorgende Politik beseitigt die Fluchtursachen von heute - und die von morgen. Die katholische Soziallehre setzt sich für Solidarität, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und die Freiheit der Person ein. Die Verwirklichung dieser Ziele kann nicht an den Grenzen haltmachen.

Kirchen wollen an Prinzipien erinnern

So ist die Beseitigung des wirtschaftlichen Ungleichgewichts auf der Welt ein Schlüssel zum Frieden. Eine Rahmenordnung nach Vorbild der sozialen Marktwirtschaft wäre hilfreich. Globalisierung allein als Ausweitung des Kapitalismus zu sehen, greift zu kurz. Wir brauchen ein Denken für die Menschheitsfamilie, wie es ansatzhaft in Paris bei der Klimakonferenz erkennbar wurde.

Wenn die Kirchen hier ihre Stimme erheben, dann tritt ihnen oft das Argument vom "naiven Gutmenschentum" entgegen. Genervte Politiker führen bisweilen ins Feld, sie hätten die Verantwortung zu tragen - während sich die Kirchen in Utopien verlören, Gesinnungsethiker eben.

Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Es ist nicht Aufgabe der Kirche, selbst Politik zu machen. Das haben Deutsche Bischofskonferenz und Evangelische Kirche in Deutschland in ihrem 1997 vorgelegten Gemeinsamen Wort festgehalten: "Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen." Sie erinnern die politisch Verantwortlichen an Leitlinien und Prinzipien, das ist mehr als Gesinnung. Es wird überprüft, ob die konkrete Politik mit dem christlichen Menschenbild im Einklang ist. Die Kirche erinnert an den Grundsatz des Evangeliums: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!

Pfarreien als Orte der Integration

Nichts veranschaulicht diesen Zusammenhang deutlicher als der Besuch von Papst Franziskus auf Lampedusa. Schlagartig rückte diese symbolische Geste das Schicksal Tausender ins Licht der Weltöffentlichkeit. Auch wenn immer noch Men-schen im Mittelmeer ertrinken, so hat doch die EU in der Folge das Grenzregime überdacht und ihre Anstrengungen in der Seerettung verstärkt. Das Thema hat neue Dynamik und neuen Tiefgang bekommen.

Die Kirche bringt ihre aus dem Evangelium gewonnenen Überzeugungen und an der Vernunft orientierten Prinzipien aber keinesfalls nur als Mahnerin in die Debatte ein. Vielmehr mischen Christen sich konkret durch ihr Handeln ein. Es ist nicht kleinzureden, was die Kirchen als Institutionen auch mit ihrer Caritas und Diakonie leisten. Und auch nicht, wenn sich Hunderttausende Freiwillige aus den Gemeinden für Flüchtlinge einsetzen.

Mich erfüllt mit Freude, dass Pfarreien vielerorts regelrechte Kristallisationspunkte der Hilfe und Integration geworden sind. Auch hierin liegt ein möglicher politischer Beitrag der Kirchen heute: Wir können die Fremden nur in unserer Gesellschaft aufnehmen, wenn wir auch wissen, wer wir selbst sind und dazu stehen. Kern des christlichen Glaubens ist die Überzeugung, dass Gott in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist und so der Bruder aller Menschen, besonders der Armen und Schwachen. Aus dieser weihnachtlichen Botschaft ergibt sich eine christlich geprägte Politik.

Kardinal Reinhard Marx, 62, ist Erzbischof von München und Freising und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.

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