Wissenschaft:Hilflose Historiker

Der Umgang mit Akten, Münzen, Handschriften oder Wappen wird immer seltener gelehrt. Für das Fach ist das dramatisch.

Von Ralf Steinbacher

"Wer lachen möchte, soll sich diesen Brief ansehen", so beginnt ein Gedicht, das Klosterschülerinnen um 1490 an ihren Propst geschrieben haben, Reime in bestem Latein: "Qui vult ridere, debet ista scripta videre." Es ist der Schluss eines literarischen Gastgeschenkes und Teil einer bisher praktisch unbekannten Sammlung von rund 1800 Briefen aus dem Benediktinerinnenkloster Lüne. Ein wahrer Schatz für Historiker, denn über die intellektuelle Ausbildung von Ordensfrauen ist nur wenig bekannt. Eva Schlotheuber, Professorin für mittelalterliche Geschichte an der Universität Düsseldorf, darf diese kostbaren Schriftstücke nun für eine Edition untersuchen. Kundige Helfer bräuchte sie wohl, sagt sie, doch "es ist schwer, welche zu finden, weil die Fähigkeiten, mit alten Quellen umzugehen, im Studium nicht mehr vermittelt werden". Die Briefe aus dem Kloster, die erstmals zeigen, wie gebildet Ordensfrauen waren, sprachlich und theologisch, sind auch nicht leicht zu lesen; verfasst sind sie in einer Mischung aus Latein und Niederdeutsch.

Die Kompetenz, alte Handschriften, Siegel, Akten, Münzen oder Wappen zu entschlüsseln, ist Grundvoraussetzung für die Arbeit aller historisch ausgerichteten Disziplinen. Doch das Fach Historische Grundwissenschaften, in dem diese Kunst gelehrt wird, droht allmählich aus der Hochschullandschaft zu verschwinden. Davor warnt jetzt der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VDH). Die Zahl der Lehrstühle für Historische Grundwissenschaften habe dramatisch abgenommen, heißt es in dem Papier, das von Eva Schlotheuber mitverfasst wurde. Laut der Professorin hat das Folgen für die gesamte Disziplin: "Das Wissen geht nicht nur Studenten verloren, sondern auch den Dozenten, und wenn es einmal ganz weg ist, dann ist es schwer wiederzuerlangen."

Die Historischen Hilfs- oder Grundwissenschaften

Die Historischen Hilfs- oder Grundwissenschaften stellen die Werkzeuge bereit, mit denen man die Geschichtsquellen benutzen kann. Sie umfassen hauptsächlich die Paläographie oder Lehre von der Entwicklung und den Formen der Schrift sowie die Diplomatik oder Urkundenlehre. Die Kodikologie beschäftigt sich mit dem handgeschriebenen Buch, dabei geht es vor allem um die handwerklich-technischen Aspekte. Zu den Grundwissenschaften zählt auch die Aktenkunde. Die Epigrafik beschäftigt sich mit alten In- und Aufschriften, die Sphragistik mit Siegeln, häufig denen von Urkunden. Dabei kann es Überschneidungen zur Heraldik geben, die sich mit Wappenkunst, -kunde und -recht befasst. Die Numismatik, auch Münzkunde genannt, beschäftigt sich mit Geld und seiner Geschichte. Realienkundler untersuchen Gegenstände wie Kronen oder Kunstwerke, aber auch Alltagsgegenstände. Genealogie ist die Familiengeschichtsforschung, umgangssprachlich Ahnenforschung, Chronologie die Lehre von den Grundlagen und dem Gebrauch der Zeitrechnung. Historische Fachinformatik beschäftigt sich damit, wie Quellen digital präsentiert und ausgewertet werden können.

Das Fach wurde von den Universitäten nicht immer so stiefmütterlich behandelt, genossen die Historischen Grundwissenschaften in Deutschland doch einmal einen ausgezeichneten Ruf. Sie entwickelten sich Ende des 19. Jahrhunderts, unter anderem, weil man wissen wollte, ob alte Urkunden echt oder gefälscht waren. Damals gab es fünf Zentren der Lehre, drei davon in Deutschland: Göttingen, Marburg und München, die beiden anderen waren in Wien und Rom. Das Fach habe ein herausragendes Niveau gehabt und Bedeutung bis in die 1970er-Jahre genossen, sagt Schlotheuber, viele Wissenschaftler seien aus dem Ausland nach Deutschland gekommen, um hier zu lernen.

Heute gelte das Fach als altmodisch, modern sei die Theorienbildung in Geschichte; "aber man muss die Theorie auch an der Basis überprüfen können". Man meine, das sei vielleicht nicht mehr so wichtig, weil es ja Editionen gebe, die Quellen allen zugänglich machten. Doch wenn man diese nicht beurteilen könne, dann könne man kein wissenschaftliches Neuland betreten, dann fehle die Innovationskraft.

Noch nie waren so viele Originale so leicht auffindbar wie heute. Sehr viel wird digitalisiert, man kann Handschriften und andere Quellen im Internet aufrufen. "Aber nur wenige können sie lesen und damit auch umgehen", sagt Schlotheuber. Das gelte auch für den Großteil der mittelalterlichen Handschriften. Deutschland verfügt über einen großen Schatz davon: Allein in den öffentlichen Institutionen werden circa 60 000 Handschriften verwahrt. Der Historikerverband fordert deshalb, die Grundwissenschaften überall fest in Lehrplänen des Faches Geschichte zu verankern und entsprechende Lehrstühle einzurichten. Denn momentan riskiere die deutsche Forschung, den Anschluss an die angelsächsische zu verlieren.

Es geht längst nicht nur um alte Gegenstände und Papiere. Wer das 20. Jahrhundert erforschen will, muss mit Wochenschauen arbeiten, mit Quellen aus Fernsehen, Presse, Radio. Auch hier liegt in der Ausbildung einiges im Argen, wie Frank Bösch, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, mahnt: "Welche Bedeutung diese Quellen haben, wie man sie methodisch auswertet oder wie Archive mit derartigen Quellen arbeiten, lernt man bisher im Studium kaum." Das treibt auch Eva Schlotheuber um: Wenn es etwa um Wochenschauen gehe, fehle vielen Historikern das Verständnis: "Man kann sie nur zur Kenntnis nehmen. Wir haben das Gefühl , wir verstehen sie intuitiv, doch ohne wissenschaftlichen Zugang verstehen wir das nur so, wie wir Werbung verstehen."

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