Jürgen Micksch:Gründer von Pro Asyl: Der unbeugsame Optimist

Bildung von Flüchtlingskindern soll erfasst werden

Flüchtlinge müssen jetzt die Sprache ihrer neuen Heimat lernen - aber sie können auch den Deutschen etwas beibringen. Davon ist Jürgen Miksch überzeugt.

(Foto: dpa)

Die Deutschen müssten lernen, Reichtum zu teilen, sagt Jürgen Micksch. Er wurde selbst vertrieben und sieht die aktuelle Flüchtlingssituation gelassen.

Porträt von Bernd Kastner, Tutzing

Da ist er wieder, dieser Micksch-Moment. Jürgen Micksch steht am Rednerpult der Rotunde, diesem kreisrunden Debattiersaal der Evangelischen Akademie im Tutzinger Schloss, und wartet auf Fragen aus dem Publikum. Bis gerade eben hat der Mann mit dem weißen Vollbart über die "Jahrhundertaufgabe" gesprochen, den Umgang mit Flüchtlingen.

Und er hat von früher erzählt, wie es in den Achtzigerjahren war, als er in dieser Akademie gearbeitet hat und "Asylanten" am Starnberger See einquartiert wurden. Zehn Flüchtlinge, in einer Baracke außerhalb Tutzings, oh Gott! Der Ort stand Kopf. Micksch hatte damals zu einer Diskussion eingeladen, sie fand auch in dieser Rotunde statt. Feindlich war die Stimmung, als Verräter haben ihn die Leute angesehen. Bis einer der "Asylanten" sein Hosenbein hochzog. Es war ein palästinensischer Junge, und er stand neben dem Rednerpult. Er zeigte sein Knie. Es war durchschossen.

Ein Haus für Flüchtlinge in jeder Kirchgemeinde

Das war schon mal so ein Micksch-Moment. Da haben die Tutzinger plötzlich verstanden, dass niemand aus Spaß seine Heimat verlässt. Wenig später haben sie eine Helfergruppe gegründet, haben Sprachkurse organisiert und Fahrräder. "Menschen können dazulernen", sagt Micksch.

Und jetzt, da nach Deutschland gerade über eine Million Flüchtlinge in nur einem Jahr gekommen sind, meldet sich Inge Glatzel zu Wort. Das Essen wartet, die Besucher hören seit Stunden Vortrag um Vortrag. "Auf der Flucht" heißt die Tagung, sie reden über Betten in Turnhallen und "Bearbeitungsstraßen" fürs Registrieren. Frau Glatzel hat eine Idee: Jede Kirchengemeinde solle ein Haus für Flüchtlinge bauen. Die Rotunde raunt. Ja, sie selbst habe in Kirchheim bei München doch erlebt, dass das geht, ein halbes Jahr habe es gedauert, dann stand das Haus. Wenn das alle Pfarreien täten, katholische und evangelische, ließen sich schnell eine halbe Million Geflohene in Deutschland integrieren. Die Frau hält einen Brief an Reinhard Marx und Heinrich Bedford-Strohm, die obersten Bischöfe Deutschlands, in der Hand, geht zum Rednerpult und drückt ihn Micksch in die Hand. Machen Sie was draus!

Micksch könnte der Dame viel Erfolg wünschen, und gut wär's. Aber er fängt diesen Moment ein. "Wir sollten so einen Vorschlag hier debattieren", spricht er ins Mikrofon, so nüchtern, wie er in seinem Vortrag Begriffe wie "globale Ungerechtigkeit" oder "Festungsmentalität" ausspricht. Die Idee der Frau Glatzel könnte der Anfang von etwas Großem sein, aber ein Jürgen Micksch bleibt sachlich. "Was spricht denn gegen diesen Vorschlag?" Applaus. Und die Moscheegemeinden sollten ebenfalls je ein Asyl-Haus bauen, schlägt Micksch vor und bespricht sich am nächsten Morgen, beim Frühstück, mit Frau Glatzel. Er wird ihren Vorschlag zu Papier bringen, als "Tutzinger Impuls".

Tutzing. Dieser Ort am See, den so viele Reiche bevölkern, war und ist ein Lebensimpuls für Jürgen Micksch, seit er hier von 1984 bis 1993 stellvertretender Akademie-Direktor war, Kontakte knüpfte und Bleibendes anstieß. Micksch hat Pro Asyl gegründet, vor 30 Jahren, als Bundesarbeitsgemeinschaft von Mitarbeitenden aus Flüchtlingsräten, Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrts- und Menschenrechtsorganisationen. Micksch war bis 2012 Vorsitzender. Aus der Gruppe ist in drei Jahrzehnten eine laute Stimme unter den deutschen Menschenrechtsorganisationen geworden. Nur Jürgen Micksch ist so leise wie eh und je. Der Doyen und Diplomat der Asyl-Szene wird in ein paar Tagen 75.

Am Ende des denkwürdigen Jahres 2015 ist er als Referent ins Schloss nach Tutzing gekommen. Die Tagung macht Mittagspause, Micksch spaziert durch den Park, wo er früher Fußball gespielt hat. Die alten Bäume sind winterkahl, einer fehlt. Da! Micksch zeigt ein paar Meter hinüber. Dort habe er damals mit Hermann Swoboda, einem Obdachlosen, gesessen, auf einer Parkbank unter einem großen Baum. Mit ihm habe er über die Idee gesprochen, auch in Deutschland eine Zeitung aufzumachen für die von ganz unten, wie Big Issue in London.

Das Fremde kennenzulernen, ist Gift für Vorurteile

Es dauerte nicht lange, dann erschien im nahen München Deutschlands erste Straßenzeitung. Biss, "Bürger in sozialen Schwierigkeiten". Als Swoboda vor ein paar Jahren starb, kam Micksch nach München und beerdigte ihn, er ist ja auch Pfarrer. Wo er mit Swoboda diskutierte, sitzt heute auf einem Quader eine Frau, die Beine übereinander geschlagen, eine Kunstfigur. Dahinter noch der Stumpf des Baumes, als wäre er ein Denkmal.

Unten am Hang ragt eine Seeterrasse ins Wasser, nichts verstellt den Blick auf die Alpen. Sein Chef hat Micksch damals an die Akademie gelockt mit der Aussicht, auf dem Starnberger See, wann immer er wollte, segeln zu können. Einmal ist Micksch sogar hinüber geschwommen, ans Ostufer, begleitet von einem Pfarrer im Ruderboot. Der Kollege aber hat sich verrudert, und als Micksch anlandete, war er nackt, und die Klamotten lagen im Boot vom Pfarrer.

22000 Mitglieder

Im Jahr 2015 ist die Zahl der Mitglieder bei Pro Asyl stark angestiegen: Über 4000 Neuzugänge konnte der Verein verzeichnen. Damit sind jetzt mehr als 22 000 Menschen Mitglied. Im Vergleich: Während des Jahres 2014 waren rund 1700 Menschen zu Unterstützern geworden. Aus der kleinen Gruppe vor 30 Jahren ist Pro Asyl inzwischen eine der wichtigsten Stimmen unter den deutschen Menschenrechtsorganisationen geworden.

Der langjährige Pro Asyl-Sprecher Hubert Leuninger hat seinen Mitstreiter Micksch einmal einen "Netzwirker" genannt. Micksch bringt Menschen zusammen, die bis dahin gar nicht wussten, dass sie miteinander zu tun haben wollen, Kurden und Türken zum Beispiel. Er verknüpft seine Kontakte zu Knoten, auf dass sich in diesem Netz Menschen und Ideen verfangen. Micksch ist Fänger und Finder. Er findet zur rechten Zeit die richtigen Worte. Den "ausländischen Mitbürger" etwa, als Ausländer noch weit außerhalb lebten, und die "multikulturelle Gesellschaft". Das war 1980, als seiner evangelischen Kirche eine bunte Gesellschaft noch suspekt war. Sie verbot ihm den Begriff. Aber da war er schon in der Welt.

Manchmal, wenn er vorne am Rednerpult steht, wünscht man ihn sich lauter, energischer, radikaler. Aber dann wäre Micksch nicht mehr Micksch. Er versteht zuzuhören, in kleiner Runde entfalten seine Worte ihre Wirkung. Er erwartet keine schnellen Erfolge, er weiß, dass es oft viel Geduld braucht, bis eine Idee laufen lernt. Micksch predigt den "Wandel durch Kontakte". Den Anderen, den Fremden kennenzulernen ist Gift für Vorurteile.

Der Rechtsextremismus treibt ihn um

Deshalb ist er Ende vergangenen Jahres für einen Nachmittag nach Mannheim gefahren, seine gerade erwachsen werdende Tochter hat dem Papa ihr Auto geliehen. Er besuchte die Hildegard Lagrenne Stiftung, die sich für die gesellschaftliche Teilhabe von Sinti und Roma einsetzt. Micksch will diese große Minderheit stärker einbinden in die Internationalen Wochen gegen Rassismus. Auch die sind seine Erfindung und sind inzwischen auf 1400 Veranstaltungen bundesweit gewachsen. Also hört er Romeo Franz, dem Chef der Stiftung zu, wie dieser das belastete Nebeneinander der "Mehrheitsgesellschaft" und der Sinti und Roma beschreibt. Micksch stellt Fragen, tastet sich vor. Am Ende nehmen sich die beiden zehn Veranstaltungen fürs kommende Jahr vor, ein Anfang, immerhin.

Früher war Tutzing der zentrale Knoten in Micksch' Netz, heute ist es Darmstadt, wo der Interkulturelle Rat seinen Sitz hat. Auch den hat er gegründet, dort führt er als Vorsitzender jetzt noch die Geschäfte. Jeden Vormittag sitzt er im Büro, wo sich Unterlagen in einer Obstkiste stapeln. Die Kammer repräsentiert Bescheidenheit.

Deutschland werden lernen, Reichtum teilen zu müssen

Aufgeregte Diskussionen wie jetzt um die vielen Flüchtlinge bringen Micksch nicht aus der Ruhe. Für ihn ist das die längst erwartete Globalisierung. "Flüchtlinge sind Botschafter für Veränderungen." So hat er den ersten Satz seiner zehn "Tutzinger Thesen" formuliert, die er zusammen mit der Asyl-Häuser-Idee zum "Tutzinger Impuls" kombiniert hat. Darin ist das Mickschsche Denken skizziert. Kriege vertreiben die Menschen ebenso wie Hunger und Armut; die Klimaerwärmung wird alles verschlimmern; und wenn Europa die Meere vor Afrika plündert, tut das das Übrige.

"Es wird Jahrzehnte dauern", sagt Micksch, "bis es zu einem Umdenken kommt. Deshalb ist die weitere Zunahme von Flüchtlingen absehbar." Die Einheimischen werden sich an sie gewöhnen. "Menschen lernen miteinander auszukommen." Dass sie schon so viel gelernt haben, dass die Hiesigen den Fremden nicht nur am Münchner Hauptbahnhof applaudieren, sondern sie im ganzen Land beherbergen und unterstützen, das überrascht selbst Micksch: "In dieser Intensität habe ich damit nicht gerechnet." Es müsse die Frucht jahrzehntelanger Arbeit der Asylszene sein, sagt er. Viele Bürger in unzähligen Gruppen hätten, fast unmerklich, dieses Willkommensklima geschaffen.

Micksch wirkt als Mediator zwischen Religion und Politik; er reicht Politikern einen ethischen Kompass. Jetzt treibt ihn der Rechtsextremismus um und der Islamhass. Und die Flüchtlingskrise? Gibt es die überhaupt? "Ich mache mir, ehrlich gesagt, keine großen Sorgen." Zu gefestigt sei Deutschland, als dass die Ankommenden die Gesellschaft ins Wanken bringen könnten. Verändern aber werde sich einiges: "Sie werden uns beibringen, dass wir unseren Reichtum teilen müssen."

Das sagt einer, dessen eigenes Leben mit Flucht begonnen hat. Mit Mutter, Schwester und Oma hat er 1945 als Vierjähriger das eingekesselte Breslau zu Fuß verlassen. Die Familie lebte im Freien auf einem Sportplatz, die Mutter schickte ihn zum Klauen ins eingezäunte russische Vorratslager. Später verschlug es die Familie nach München, wo der Vater seine Confisserie wieder aufmachte, noch mit 95 verkaufte er Pralinen.

Sohn Jürgen landete auf der Bühne. Ein Regisseur war ins Münchner Luitpold-Gymnasium gekommen, um Kinder für Peter Pan zu casten. Jürgen wurde zum Kinderstar, spielte mit Heinz Rühmann und Ingrid Bergman, auch im Film. Das Kind wurde älter, kam in den Stimmbruch und lernte das Bühnengeschäft neu kennen.

"In einer Welt, in der man nur zählt, wenn man funktioniert, will ich nicht leben", sagt er. Eher wollte er das Wesen der Welt verstehen lernen, studierte Theologie, promovierte in Soziologie, im Rat der EKD begann eine Protestantenkarriere. Und dann, 1984, Tutzing.

Im Grünen Salon des Schlosses, wo er schon mit dem Dalai Lama über die Welt nachdachte, mit Carl-Friedrich von Weizsäcker und Peter Sloterdijk, räsoniert Micksch über die Welt zum Jahreswechsel 2015/16. Anschläge wie in Paris "werden immer wieder geschehen", sagt er, "die werden noch vieles anstellen." Doch jetzt einfach nur Soldaten nach Syrien zu schicken, das sei bloß Aktionismus. Was es brauche, sei ein koordiniertes Handeln der Weltgemeinschaft, das ganz große Rad.

Asyl an Obst und Gemüse. Spinnerei? Oder Vision?

Weil das aber nie in Bewegung kommt ohne viele kleine Rädchen, dreht Jürgen Micksch weiter an seinem Ding. Zum Beispiel am Abrahamischen Forum, noch so ein Micksch-Ding. Drei Weltreligionen gehen auf Abraham zurück, da müssten die drei doch miteinander auskommen. Abrahamische Teams, bestehend aus Christen, Muslimen und Juden, sollen eine neue Form der politisch-religiösen Integration praktizieren und lehren.

Und da Jürgen Micksch gerne nachhaltig handelt, hat er sich noch ein neues Projekt ausgedacht: "Religionen für biologische Vielfalt." Alle Religionen rühmen den Wert der Natur - was läge da näher, als die Religionen für den Erhalt dieser Natur zu mobilisieren? Ein erstes Treffen hat Micksch Dialogforum genannt, ein typischer Begriff aus der Arbeitswelt dieses Finders und Fängers: Man redet miteinander, entwickelt Ideen und schickt sie auf die Reise. In diesem September soll erstmals eine religiöse Woche für den Naturschutz stattfinden, das Bundesumweltministerium finanziert das Projekt, Vertreter von neun Religionen haben einen Appell unterzeichnet.

Hier schließt sich der Kreis zum "Tutzinger Impuls". Frau Glatzel will auf den Grundstücken ihrer Asyl-Häuser auch Obst- und Gemüsegärten anlegen. Micksch hat einen Brief an die Bundesumweltministerin geschrieben und bittet um Unterstützung. Asyl an Obst und Gemüse. Spinnerei? Oder Vision? Micksch ist begeistert, aber auch ein wenig skeptisch, nicht alles wird schließlich ein Selbstläufer. Erst wenn es gelungen ist, freut er sich. Leise, aber nachhaltig.

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