Kolumne:Erinnern

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Wie lässt sich das Gedenken an den Nationalsozialismus und seine Opfer in einer Einwanderungsgesellschaft noch vermitteln? Der Wille, eine offene Gesellschaft zu erhalten, gehört dazu.

Von Carolin Emcke

Es gibt kein Erinnern und keine Beziehung zur Geschichte, die nicht durch einen Wunsch, also durch etwas in die Zukunft Weisendes angeregt würde," sagte der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman in einem Gespräch mit der Zeitschrift Lettre. Dieser doppelten Richtung der Erinnerung, in die Vergangenheit und in die Zukunft zugleich, gilt es, sich gewahr zu sein. Nur jene Erinnerung, die dem furchtbaren Erbe der Geschichte auch eine vorwärts gewandte Aufgabe entnimmt, kann wirken und lebendig bleiben.

In ihrer beeindruckenden Rede vor dem Bundestag anlässlich des Holocaust-Gedenktages hat Ruth Klüger beides zusammengedacht: das Land der Vergangenheit, das Tod und Zerstörung über den ganzen Kontinent und darüber hinaus gebracht hat, und das Land der Gegenwart, das "großherzig" (so Klüger) mehr als eine Millionen Geflüchtete aufgenommen hat und immer noch aufnimmt. Kaum auszumalen, welcher Großherzigkeit es bedarf, an einem solchen Tag, inmitten des Erinnerns an die eigenen Qualen der Zwangsarbeit, als Überlebende der Schoah, noch aufschauen und die gegenwärtige Politik loben zu können.

Denn das kommt ja noch hinzu: Je nachdem, wer sich erinnert, je nachdem, wer verfolgt und wer verschont wurde, dem oder der verlangt das Erinnern etwas anderes ab. "Meine Verletzung deckt keine neue, festverwachsene Haut", schrieb der österreichische Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jean Améry in einem Brief an Sebastian Haffner am 31. Juli 1978. "Sie kommen zu früh mit Ihrer Objektivität." Noch immer, so macht Améry deutlich, liegt die Verletzung bloß und wund; sie lässt sich nicht nach Bedarf wegobjektivieren oder banalisieren.

Nur eine Erinnerungskultur, die auch immer wieder neu den Wunsch ausformuliert, eine offene, demokratische Gesellschaft zu schaffen, eine, die nicht zulässt, dass Einzelne oder ganze Gruppen als "fremd" ausgesondert und missachtet werden, kann wirkungsvoll bleiben. Nur das Erinnern, das auch in der Gegenwart aufmerksam bleibt für die Mechanismen von Ausgrenzung und Gewalt, kann vermeiden, dass es irgendwann einmal auf ein bloßes Ritual an Gedenktagen reduziert wird.

Was aber, wenn die Erfahrung, an die erinnert wird, und die Gegenwart, in der sie eine Rolle spielen soll, immer weiter auseinanderrücken? Was, wenn die, die sich persönlich erinnern und die, denen sie etwas erzählen können, immer weiter von einander entfernt sind? Nicht nur im Alter, sondern auch in dem, was ihnen vertraut ist, was sie als Eigenes erleben und verstehen? Wie lässt sich die Erinnerung auch für die Zukunft sichern, ohne sie auf etwas Statisches zu reduzieren? Diese Fragen drängen sich nicht erst auf, seit mit den syrischen Geflüchteten eine bewusstere Reflexion auf die republikanische, politische Grundierung einer Einwanderungsgesellschaft stattfindet. Sie stellen sich vor allem durch die immer entgrenzteren, revanchistischen Parolen rechtspopulistischer Bewegungen und durch die tätlichen Angriffe auf Juden in der Öffentlichkeit. Es braucht keineswegs einen antisemitischen Generalverdacht gegenüber Syrern oder Sachsen, um sich zu fragen, wie eine Erinnerungskultur jenen vermittelt werden kann, die nicht mit ihr aufgewachsen sind oder die sie nur als verordnet empfinden.

Für das Gedenken an Auschwitz gibt es keine Halbwertzeit

Natürlich kommen mit den syrischen Geflüchteten auch andere Erfahrungen und andere Perspektiven auf den Staat Israel hierher. Was jüdisches Leben bedeutet, welches Glück und welches Versprechen, aber auch was die Geschichte des Holocaust bedeutet, welchen Schmerz und welches Trauma, das ist vermutlich weniger vertraut oder bekannt als hier vorausgesetzt. Wird das zu Irritationen führen? Ja, gewiss. Wird es nötig sein zu erläutern, welche Verbrechen hier geschehen sind und wie sie auch den Nachgeborenen als Erbe und Aufgabe bleiben? Ja, gewiss. Für das Erinnern an Auschwitz gibt es keine Halbwertszeit.

Es wird vor allem nötig sein, mit moderneren didaktischen Methoden diese Geschichte als etwas zu erzählen, das sich mit neugieriger Einfühlung selbst aneignen lässt. Die vielen wunderbaren Beispiele aus den Programmen von Museen und Kultureinrichtungen zeigen längst, dass es möglich ist, auch Jüngere anzustiften, sich so kreativ wie ernsthaft mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Diese Arbeit wird noch stärker gefördert werden müssen als bislang, damit sie auch Formate entwickelt, die sich speziell an jene richten, die mit anderen kulturellen Referenzen auf die Geschichte blicken.

Das lässt sich vermutlich leichter denen vermitteln, die vor einer Diktatur geflohen sind, die ein autoritäres, brutales Regime verlassen haben, um in einer Demokratie und einem Rechtsstaat zu leben, als denen, die eine offene Demokratie mit rechtsstaatlichen Garantien auch für Minderheiten ablehnen. Gerade den syrischen Geflüchteten sollte sich erläutern lassen, wie die Erinnerung an die schreckliche Vergangenheit hier den Wunsch bedingt hat, eine freie Gesellschaftsordnung zu schaffen, in der Menschen sich nicht fürchten müssen, die anders glauben oder anders lieben, die anders trauern oder anders klingen, die andere Körper oder eine andere Hautfarbe haben als die Norm. Nicht, dass es immer schon gelänge. Nicht, dass es Ausgrenzung und Marginalisierung nicht mehr gäbe. Aber es kann sich an rechtsstaatliche Instanzen wenden, wer seine Rechte und Würde missachtet sieht.

Das setzt voraus, sich nicht allein der besonderen Tiefe der Schuld der Vergangenheit bewusst zu bleiben, sondern auch wachsam in der Gegenwart zuzuhören, von welchen Verletzungen die Neuankömmlinge berichten und was ihre Erzählungen an Erinnerungen bergen. Es werden sich nicht allein die Perspektiven der Geflüchteten öffnen, sondern auch unsere eigenen. Wer wir als Gesellschaft sein wollen, wird sich auch darin zeigen, ob und wie eine solche zeitoffene, vielstimmige Erzählung gelingt.

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