Job:Warum Unternehmen gezielt Autisten anstellen

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  • Nach Schätzungen sind 0,7 bis ein Prozent der Weltbevölkerung von Autismus betroffen, mehrheitlich Männer.
  • Asperger-Autisten sind normal bis hoch intelligent, dennoch hatten sie lange Zeit Probleme, einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden.
  • Bei Konzernen wie SAP setzt mittlerweile ein Umdenken ein.

Von Miriam Hoffmeyer

Ob in der Schule oder an der Uni, nie habe er richtig dazugehört, sagt Martin Busley. "Ich bin immer als gewisser Fremdkörper aufgefallen, das ist das Außerirdischen-Syndrom." Nach dem Vordiplom brach Busley sein Mathematikstudium ab. Er jobbte in einem Baumarkt, statt mit Mathematik befasste er sich mit dem Ein- und Ausräumen von Regalen. "Dachlatten einzuräumen ist nicht unbedingt intellektuell befriedigend. Und wenn Kunden eine Auskunft wollten und warteten, fühlte ich mich unter Zeitdruck und geriet ein bisschen in Panik."

Vor zehn Jahren wurde bei Martin Busley Asperger-Autismus diagnostiziert. Menschen mit dieser Entwicklungsstörung können soziale und emotionale Signale nur schwer einschätzen und angemessen darauf reagieren. Arbeitgeber im Gespräch von sich zu überzeugen ist für sie eine riesige Herausforderung. Martin Busley sah für sich erst eine Chance, als er von einer Bekannten erfuhr, dass die Software-Firma SAP gezielt Autisten einstellt. 2013 bewarb er sich bei SAP, wurde zu einem Kennenlerntag eingeladen, machte ein Praktikum und wurde dann im selben Team als Systemadministrator fest angestellt. Über ein schriftliches Meldesystem bearbeitet der 31-Jährige nun Kundenanfragen aus der ganzen Welt.

SAP beschäftigt weltweit knapp hundert Mitarbeiter mit Autismus, ein Fünftel von ihnen in Deutschland. Bis 2020 will der Konzern noch mehrere Hundert Autisten einstellen. "In der Regel können sich diese Menschen lange Zeit sehr konzentriert mit einer Sache beschäftigen, viele haben ein enormes visuelles Gedächtnis. Deshalb können sie gut Fehler in einer Software aufspüren", sagt Anka Wittenberg, bei SAP für Diversität und Inklusion zuständig.

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Doch die Einsatzmöglichkeiten für Autisten sind nicht auf Software-Testen oder Dateneingabe beschränkt. Einige arbeiten auch als Projektmanager oder in der Produktion von PR-Videos. Die Atmosphäre in den Teams habe sich durch die neuen Mitarbeiter sogar verbessert, meint Wittenberg: "Autisten sagen immer die Wahrheit, sie geben direktes Feedback auch über das, was nicht so gut gelaufen ist. Sarkasmus verstehen sie nicht. Die anderen Mitarbeiter haben das berücksichtigt und so haben am Ende alle direkter miteinander gesprochen." Da bei SAP Deutschland 80 Nationalitäten vertreten sind, sei eine klare Kommunikation für alle von Vorteil.

Beim Auswahlverfahren arbeitet der Konzern mit dem Integrationsamt Karlsruhe und dem dänischen Unternehmen Specialisterne zusammen, das Autisten weltweit bei der Integration in den Arbeitsmarkt unterstützt. "Bisher haben wir uns oft auf die Schwächen von Bewerbern konzentriert. Wir müssen umdenken und mehr auf die Stärken sehen", sagt Wittenberg. EU-weit seien im IT-Bereich 900 000 Stellen offen. "Und wenn wir Menschen integrieren, deren Gehirn anders vernetzt ist, kommen auch andere Lösungen heraus."

Nach Schätzungen sind 0,7 bis ein Prozent der Weltbevölkerung von Autismus betroffen, mehrheitlich Männer. Asperger-Autisten sind normal bis hoch intelligent, trotzdem können viele den Alltag nicht ohne Hilfe bewältigen. Viele Autisten arbeiten in Behindertenwerkstätten. Diejenigen, die einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt finden, verschweigen die Störung oft, erklärt Friedrich Nolte vom Verband Autismus Deutschland: "Es ist aber extrem anstrengend, die Schwierigkeiten ständig kompensieren zu müssen." Offenheit beim Vorstellungsgespräch werde zu selten belohnt: "Dann kommen meist sehr skeptische Fragen, diesem Druck halten viele nicht stand."

Nun aber rücken die Fähigkeiten von Menschen mit Autismus stärker in den Vordergrund. 2011, als SAP in Indien sein Programm "Autism at work" startete, wurde auch die Berliner Integrationsfirma Auticon gegründet, die Autisten als IT-Consultants beschäftigt. Der Gründer Dirk Müller-Remus, Vater eines Sohnes mit Asperger-Autismus, beschäftigt inzwischen fast 60 Mitarbeiter aus dem autistischen Spektrum und hat Filialen in München, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und Stuttgart.

Alltagsuntauglichkeit trotz Spezialbegabung

"Bei Menschen mit Asperger-Autismus fällt eine enorme Diskrepanz zwischen Alltagsuntauglichkeit und Spezialbegabung auf", sagt Müller-Remus. "Außerdem haben sie einen starken Hang zur Qualitätssicherung. Meine Leute sind sehr akkurat und können großartig analytisch-logisch denken." Trotzdem waren sie früher Hartz-IV-Empfänger, einige hatten ihr Studium abgebrochen, sich aber autodidaktisch Wissen angeeignet. Oft müsse man den Bewerbern ihre Kompetenzen förmlich aus der Nase ziehen, erzählt der Auticon-Gründer: "Ich habe mal einen nach seinem Hobby gefragt, da stellte sich heraus, dass er gern Computer-Handbücher übersetzt - in fünf Sprachen. Im Lebenslauf stand kein Wort darüber."

Im beruflichen Alltag sind für Autisten eine ruhige Arbeitsumgebung, wiederkehrende Abläufe, Arbeiten ohne Zeitdruck und feste Ansprechpartner wichtig. Die Auticon-Consultants haben Job Coaches, die auch die Kundenfirmen, bei denen sie eingesetzt sind, über ihre Bedürfnisse aufklären. Bei SAP hat jeder autistische Mitarbeiter einen Mentor aus einer anderen Abteilung, an den er sich bei Konflikten wenden kann, sowie einen "Buddy" in seinem Team. Martin Busleys Kollegin Annett König half ihm nicht nur, im Unternehmen heimisch zu werden, sondern sogar bei der Wohnungssuche in Mannheim. "Die ersten acht Wochen sind wir so ein bisschen ängstlich umeinander herumgeschlichen", erzählt Annett König. "Aber dann haben wir gemerkt, dass das gut läuft - und wir gar nicht so verschieden sind."

© SZ vom 27.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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