Bilanz:Arm trotz Arbeit

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Auch die Mitarbeiter der Gastronomie müssen ihre Arbeitszeiten protokollieren. Ein Aufwand, der die Branche lähmt, beklagen die Arbeitgeber. (Foto: Marc Tirl/dpa)

Vor gut einem Jahr wurde die Lohnuntergrenze eingeführt. Die Bilanz für den Landkreis Dachau fällt ernüchternd aus: Geringverdiener profitieren kaum davon. Die Wirtschaft kritisiert den bürokratischen Aufwand

Von Sebastian Jannasch, Dachau

Gut ein Jahr nach der Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro zieht das Dachauer Jobcenter eine gemischte Bilanz für den Landkreis. Gebracht hat die allgemeine Lohnuntergrenze wenig für Geringverdiener, geschadet aber auch nicht. "Wir sehen keine negativen, aber auch keine positiven Auswirkungen. Es gibt keinen merkbaren Effekt", sagt Geschäftsführer Peter Schadl. Die Einführung einer Lohnuntergrenze von 8,50 Euro je Stunde im Januar 2015 habe nicht dazu geführt, dass Betriebe Stellen streichen mussten. Gleichzeitig sei es aber auch nicht gelungen, die Zahl der Menschen zu reduzieren, die von ihrer Arbeit nicht leben können und deshalb zusätzlich Hartz-IV-Leistungen beziehen. Die Anzahl der sogenannten Aufstocker ist nach der Einführung des Mindestlohns im Landkreis etwa gleich geblieben. Kritik am Mindestlohn kommt von der Wirtschaft. Die Betriebe beklagen die hohe Bürokratie. Die Caritas und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) bemängeln hingegen, dass der Mindestlohn wenig dazu beitrage, Armut trotz Arbeit zu bekämpfen.

Nach den Zahlen des Jobcenters waren unmittelbar vor der Einführung des Mindestlohns im Dezember 2014 517 Personen im Landkreis darauf angewiesen, ihr Arbeitseinkommen ergänzen zu lassen, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Im Januar 2015 gab es 537 Aufstocker. Die Zahl der Anspruchsberechtigten stieg demnach sogar leicht. Der Durchschnitt der Aufstocker lag zwischen September 2014 und September 2015 bei 529, mehrheitlich waren es Frauen. Ob ein Berufstätiger finanzielle Unterstützung bekommt, richtet sich unter anderem danach, wie viele Erwachsene und Kinder von dem Einkommen leben müssen. Insgesamt geht etwa ein Fünftel der Hartz-IV-Bezieher im Kreis einer Arbeit nach, ohne von dem Verdienst den Lebensunterhalt bestreiten zu können. "Diese Zahlen zeigen, dass Vorurteile, Hartz-IV-Bezieher seien faul, unbegründet sind", sagt Peter Schadl.

Die gesetzliche Minimalbezahlung geht im Landkreis an den meisten Geringverdienern vorbei und konnte ihnen nicht helfen, aus Hartz-IV auszusteigen. Ein wesentlicher Grund für den geringen Effekt ist das im Bundesvergleich hohe Lohnniveau. "Fast alle Unternehmen im Kreis haben bereits vor der Einführung des Mindestlohns deutlich mehr als 8,50 Euro gezahlt. Diejenigen, die darunterlagen, waren meist nur wenige zehn Cent davon entfernt", sagt Jobcenter-Chef Schadl. Nur in vereinzelten Fällen, etwa in der Gastronomie und im Reinigungsgewerbe, sei vor 2015 weniger als 8,50 Euro gezahlt worden. So fiel die Lohnsteigerung, wenn überhaupt, sehr gering aus. Die knappe Hälfte der Aufstocker sind Minijobber. Sie dürfen maximal 450 Euro monatlich verdienen, um keinerlei Abgaben zu zahlen. Anstatt das Haushaltseinkommen zu steigern, führte der Mindestlohn eher dazu, dass Beschäftigte nun ein paar Stunden weniger arbeiten. Weitere Aushilfen müssen nun die Lücke füllen. Gleich zu Beginn des vergangenen Jahres überprüfte das Jobcenter, ob die Minijob-Verträge die neue Lohnuntergrenze einhalten. "Wir haben keinerlei Verstöße festgestellt. Alle zahlen Mindestlohn", sagt Peter Schadl.

Kritik am Mindestlohn kommt aus der Wirtschaft. Als stellvertretender Vorsitzender des Hotel- und Gaststättenverbands Dachau sowie Obermeister der Metzgerinnung Dachau-Freising vertritt Werner Braun gleich zwei Branchen, in denen die Lohnuntergrenze relevant ist. "In unserer Branche hat der Mindestlohn Auswirkungen gehabt. Einige Aushilfen in der Küche und der Bedienung bekommen jetzt mehr Geld." Braun beklagt den bürokratischen Aufwand, den das Mindestlohngesetz den Betrieben auferlegt. So müssen die Mitarbeiter seiner Metzgerei und seines Wirtshauses in Wiedenzhausen nun per Stempeluhr ihre Arbeitszeiten genau protokollieren. Bei Kontrollen des Zolls könne Wirt Braun so nachweisen, dass er den Mindestlohn nicht unterschreite. "Dieser Aufwand lähmt die Branche und könnte die Schwarzarbeit in dem Bereich fördern." Den "Bürokratie-Aufbau" moniert auch Michael Steinbauer von der Industrie- und Handelskammer (IHK) im Kreis. Die Dokumentationspflichten seien eine große Belastung für die Unternehmen. Bei den in der IHK Dachau organisierten Unternehmen wurden jedoch keine Stellen wegen des Mindestlohns gestrichen. Bereits vor 2015 überstiegen die Löhne hier 8,50 Euro. Die Betriebe zahlen mehr, um attraktiv für Fachkräfte zu sein.

Doch Hunderte, oft gering qualifizierte Menschen im Landkreis können nach wie vor von ihrer Arbeit nicht leben. "Der Mindestlohn ist kein Allheilmittel, um Menschen aus Hartz-IV herauszuholen", sagt David Schmitt, zuständig für Arbeitsmarktpolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Bayern. Da Aufstocker häufig in Minijobs oder in Teilzeit beschäftigt sind, reiche das Einkommen trotz 8,50 Euro pro Stunde nicht aus, besonders bei Familien mit mehreren Kindern. Ohne Vollzeitstelle bringt der Mindestlohn wenig. Doch in der Gastronomie und im Einzelhandel setze man bewusst auf geringfügige "Arbeit auf Abruf", um je nach Bedarf Mitarbeiter flexibel anzufordern, sagt Arbeitsmarktexperte Schmitt.

Doch nicht in jedem Fall bietet ein Vollzeitjob einen Ausweg aus der Abhängigkeit von staatlichen Zuschüssen. Lena Wirthmüller von der Dachauer Caritas kennt aus ihrer Schuldnerberatung Alleinverdiener, die trotz 40-Stunden-Jobs Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen hätten. "Viele scheuen sich aber, das Geld zu beantragen. Sie wollen nicht stigmatisiert werden und schämen sich, Hartz-IV zu bekommen, obwohl sie arbeiten." Deshalb vermutet die Sozialberaterin, dass die Zahl der armen Berufstätigen im Landkreis sogar noch höher ist als die Statistik des Jobcenters es ausweist. Auch der Papierkram schrecke manchen ab, ergänzende Leistungen zu beantragen. Jegliches Einkommen, jeglicher Zuschuss von Verwandten muss dokumentiert, jeder Kontoauszug dem Amt vorgelegt werden. Privatsphäre bei Einkäufen gibt es nicht mehr. "Viele, die von der Arbeit nicht leben können, sind verzweifelt, manche wütend auf das ganze System." Positive Auswirkungen durch den Mindestlohn hat Wirthmüller bei den Gesprächen mit Menschen in Existenznot nicht festgestellt. "In der Region um München kann der Mindestlohn von 8,50 Euro keine Verbesserung bringen. Die Mieten und Lebenshaltungskosten sind dafür zu hoch, besonders für Familien mit nur einem Verdiener und Alleinerziehende."

© SZ vom 24.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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