Ökosysteme:Landschaften der Angst

Wildpark Schwarze Berge

Der Einfluss von Wölfen auf ein Ökosystem beschränkt sich nicht auf ein paar gerissene Tiere.

(Foto: Axel Heimken/dpa)

Wenn ein Raubtier von der Spitze der Nahrungskette verschwindet, kann das ganze Ökosystem in Schieflage geraten. Doch was passiert, wenn Wölfe oder Luchse wieder zurückkommen?

Von Marlene Weiss

Fast kann er einem leidtun, der Waschbär. Da hockt er im Dunkeln am Ufer der kleinen Insel vor Kanadas Küste und sucht im Sand nach Krabben. Gut für ihn, dass Wölfe und Pumas auf der Insel schon seit Jahren ausgerottet sind, die ihm und seinen Artgenossen die Existenz hätten streitig machen können. Es lebt sich ganz gut so am oberen Ende der Nahrungskette. Aber dann, aus dem Nichts, ertönt ein lautes Kläffen: ein Hund, der letzte natürliche Feind, den Waschbären auf der Insel noch haben. Der Waschbär schreckt auf, schaut kurz entsetzt in die Nachtsichtkamera, und weg ist er.

Das Video hat Justin Suraci von der University of Victoria in Kanada mit seinen Kollegen aufgenommen (Nature Communications). Der Hund war Teil der Inszenierung, das Bellen kam vom Tonband. Die Forscher wollten untersuchen, welche Rolle Angst in der Natur spielen kann. Was passiert, wenn man Waschbären in dem Glauben lässt, ein gefährlicher Hund lauere hinter dem nächsten Busch? Werden sie vorsichtiger? Und was bedeutet die Angst der Waschbären für ihre Beute? Und für den ganzen Lebensraum?

Es sind Fragen, die sich Wissenschaftler schon länger stellen - und wo Raubtiere ihre alten Territorien zurückerobern, auch nach Renaturierungsprojekten, desto relevanter werden sie. Immer wieder lässt sich beobachten, dass ein neuer oder alter, jedenfalls übermächtiger Feind einen umfangreicheren Einfluss auf ein Ökosystem hat, als es ein paar gerissene Tiere vermuten lassen. Andersherum können ganze Biotope in Schieflage geraten, weil ein Fressfeind verschwindet. Kann das Verschwinden einer überschaubaren Bedrohung eine unbeherrschbare Bedrohung sein?

Viele Forscher haben das Phänomen untersucht; allen voran der Ökologe Oswald Schmitz von der Yale University. Er und seine Kollegen erforschten unter anderem Spinnen, die Heuschrecken fressen. Einigen Spinnen verklebten sie die Mundwerkzeuge, so dass sie den Heuschrecken nichts mehr anhaben konnten. Aber allein aufgrund der Anwesenheit der verstümmelten Räuber verzichteten die Heuschrecken auf einen Teil der Nahrung, um sich möglichst wenig der vermeintlichen Gefahr auszusetzen. Ihre Ausbreitung litt. Die Angstherrschaft der Spinnen dauerte an, obwohl längst keine Heuschrecken mehr gefressen wurden.

Populär wurde Schmitz' Theorie der Angst-Ökologie, als Forscher begannen, sie auf den amerikanischen Yellowstone-Nationalpark anzuwenden, nachdem dort 1995 wieder Wölfe ausgesetzt worden waren. Bis dahin hatten die Wapitihirsche im Park wenig Konkurrenz gehabt, und sie knabberten in aller Ruhe die Weidensprösslinge in den Flusstälern ab, ohne sich groß vom Fleck zu bewegen. Das war hart für die Biber, die auf intakte Weiden angewiesen waren. Darum gab es Mitte der Neunzigerjahre nur mehr eine einzige Biberkolonie.

Kaum waren die Wölfe wieder da, meinten Forscher zu beobachten, dass die Hirsche ihr Verhalten änderten: Sie wurden wachsamer, zogen sich in die Wälder zurück und fraßen weniger intensiv an einem Ort. Die Weiden konnten wieder wachsen, heute gibt es wieder viele Biber in Yellowstone. Wissenschaftler prägten den populären Begriff einer "Landschaft der Angst", in der die Hirsche lebten. Inzwischen ist jedoch umstritten, ob nicht auch Bären und das veränderte Klima den Hirschen zusetzen. Inwieweit es wirklich die Angst vor Wölfen war, die die Lebensweise der Hirsche und damit die Vegetation verändert hat, ist noch nicht geklärt.

Waschbären reagieren auf Hundgebell. Selbst wenn es nur vom Tonband kommt

Bei den Waschbären auf den Inseln vor Kanada haben Justin Suraci und seine Kollegen jedoch einen klaren Panik-Faktor beobachtet - damit ist die Studie ein starkes Argument für die Theorie der Angstlandschaft. Waschbären, die am Ufer das Hundegebell vorgespielt bekamen, verbrachten danach weniger Zeit mit der Nahrungssuche und flohen meist kurz nach dem Lärm. Ähnlich heftige, aber harmlose Laute von Seehunden hatten dagegen keinen Einfluss.

An manchen Orten spielten die Wissenschaftler einen ganzen Monat lang regelmäßig Hundelärm. Das Getöse veranlasste die Waschbären, sich mit der Futtersuche zu beeilen. In der Folge konnten sich die Krebse, Krabben und Fische erholen, die sonst übliche Beute der Waschbären. Weniger erfreulich war das Experiment für die kleinen Schnecken, die ihrerseits den Krebsen als Nahrung dienen. Ihr Bestand nahm ab, nachdem Waschbären, die Feinde ihrer Feinde, mit Hundegebell vergrault worden waren.

Wie sehr sich die Angst vor dem Gefressenwerden auf ein Gebiet auswirkt, hängt jedoch stark von den beteiligten Tieren ab. Auch im Bayerischen Wald, wo seit den Neunzigerjahren wieder Luchse leben, haben Forscher nach solchem ängstlichen Verhalten gesucht - weitgehend vergeblich. Rehe verhalten sich in Gebieten, in denen Luchse umherstreifen, kaum anders als üblich. Sie fressen weiter in aller Ruhe und unterbrechen ihre Mahlzeiten nicht häufiger, um sich umzusehen - ein Verhalten bei Gefahr, das "Sichern" genannt wird. "Aber das System Reh-Luchs ist typisch für Pirsch- und Ansitzjäger", sagt Marco Heurich, der die Luchse im Nationalpark Bayerischer Wald seit Langem beobachtet und erforscht. "Die Effekte bei Raubtieren wie dem Wolf, die ihre Beute hetzen, können viel stärker sein."

Rehe lassen sich vom Luchs ihre Mahlzeiten nicht vermiesen

Denn vermutlich stellen die Tiere unbewusst eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung auf. Wer wie Suracis Waschbären auf Futter verzichtet, um sich zu verstecken, muss dadurch sein Risiko tatsächlich verringern. Das geht, wenn der Feind ein Hetzjäger ist wie Hunde oder Wölfe. Sie brauchen Platz für die Jagd, im Unterholz ist es darum vergleichsweise sicher. Luchse dagegen pirschen sich an, sie können immer und überall zuschlagen. Rehe haben kaum eine Chance, sie rechtzeitig zu bemerken: "Hat sich der Luchs einmal bis auf 20 Meter herangeschlichen, sind 70 Prozent der Angriffe erfolgreich", sagt Heurich. Erfolgreich heißt: Luchs satt, Reh tot.

Daher lassen es Rehe offenbar lieber drauf ankommen, ehe sie vor lauter Schreckhaftigkeit verhungern. Zumal sie sehr spezielle, energiereiche Nahrung brauchen und daher viel Zeit auf das Fressen verwenden müssen. Dass Rehe wirklich vorsichtiger wurden, konnten Heurich und seine Kollegen erst beobachten, als sie Luchs-Urin verteilten: Die unmittelbar wirkende Gefahr veranlasste die Tiere, ihre Mahlzeiten abzukürzen. Sinnlose Panik hat in der Evolution noch nie einen Vorteil gebracht. Begründete Vorsicht dagegen schon.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: