Film:Vom Sockel geholt

Noch nie erzählte ein deutscher Spielfilm die Geschichte der Anne Frank - mit dem ersten kommt ihr Hans Steinbichler nun ganz nah.

Von Bernd Dörries

Zum zehnten Mal stehen sie nun da im Wohnzimmer und stoßen auf die Meldung an, die sie gerade im Radio gehört haben: Die Alliierten kommen. Die Männer bieten sich das Du an und trinken Schnaps, die Frauen schauen rosig. Es ist ein Punkt, an dem noch alles gut werden könnte. Aber Hans Steinbichler ist es nie gut genug. Den ganzen Morgen lässt er die Szene drehen in einem Haus in Amsterdam. Draußen scheint die Sonne, drinnen ist es düster-kalt, drinnen ist es 1944.

Gibt es bei diesem Stoff überhaupt noch etwas zu erzählen? Oder ist alles gesagt?

"Ich sehe, wie die Welt langsam immer mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre den anrollenden Donner immer lauter, der auch uns töten wird, ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit." Das ist einer der ersten Sätze im Film über Anne Frank, der am 3. März in die Kinos kommt. Wenn Lea van Acken aus dem Wohnzimmer in Amsterdam tritt, wird aus Anne Frank eine 16-jährige Schülerin, die von ihren Kollegen "Lealein" genannt wird. Martina Gedeck reicht ihr eine Decke, Ulrich Noethen einen Tee. Die Filmeltern haben es in den Pausen leichter mit ihr als in den Szenen. "Zu einem Menschen gehört dazu, Schwächen zu haben", sagt Lea van Acken. Sie spielt eine Tochter, ein Mädchen von 14 Jahren, das auf die Periode wartet und der Mutter sagt, dass sie nichts für die Mutter empfinde. Sie spielt keine Ikone nach. "Alle Filme bisher haben Anne Frank heiliggesprochen", sagt Steinbichler. Als er das Angebot bekam, diesen Film zu drehen, hat er sich gefragt, ob denn da überhaupt noch etwas ist, das man erzählen kann. Oder ob nicht bereits alles gesagt ist.

Im Jahr 1959 hat der Hollywood-Film "Das Tagebuch der Anne Frank" drei Oscars bekommen. Danach gab es noch unzählige weitere Filme, Bücher und auch Apps. Straßen und Plätze tragen ihren Namen, es gibt ihr Tagebuch mit Illustrationen von Marc Chagall. Ein Asteroid heißt nach ihr. Anne Frank ist ein Mythos geworden, auf eine gewisse Art entmenschlicht und entkernt. Es war oft nur noch wenig übrig von Anne Frank. "Wir probieren eine radikale Subjektivierung", sagt Regisseur Steinbichler am Drehort in einer kleinen Wohnung in Amsterdam.

"Der liebe Gott weiß alles, aber Anne weiß alles besser." Das hat die Mutter der besten Freundin einmal über sie gesagt. Man kann verstehen, wie so ein Satz zu- stande kommt, wenn man den Film gesehen hat. Anne Frank steht da nicht auf einem Sockel, sie knutscht auf dem Dachboden, sie erklärt der Mutter, wie man Kinder erziehen muss. Sie ist eine Intellektuelle des Alltags, die um ein eigenes Ich ringt, in einem eingesperrten Leben. Das ist nicht immer angenehm für die Umgebung. "Es ist nicht dieser übliche bleierne deutsche Sepia-Schleim", sagt Steinbichler. Es ist der erste deutsche Spielfilm über Anne Frank, etwas mehr als 70 Jahre nach ihrem Tod. Warum es so lange gedauert hat? Vielleicht, weil Deutschland Anne Frank damals vertrieben hat, von Frankfurt nach Amsterdam. Und sie nur zurückholte, um sie zu ermorden. "Dabei ist es doch ein genuin deutscher Stoff", sagt Steinbichler. Für die Holländer ist sie eine von ihnen, Teil der nationalen Erzählung, zumindest jenes Teils, der sich so schön anhört, in dem man den Verfolgten Unterschlupf bot.

Vor dem Anne-Frank-Haus, ein paar Straßen vom Drehort entfernt, stehen die Menschen Schlange, um das Versteck im Hinterhaus zu sehen. Es ist oft nur Teil des üblichen Programms in Amsterdam: Kiffen, Anne Frank, Peepshow und Pommes. Vielleicht erreicht man so sehr viele junge Leute. Vielleicht wird dadurch ein besonderes Leben sehr banal.

Auch das ZDF wollte den Film, vergaß aber, die Rechteinhaber zu fragen

Dass jetzt eine ganz andere Anne Frank in die Kinos kommt, liegt neben Steinbichler an Walid Nakschbandi. Der Produzent kam Anfang der Achtzigerjahre aus Afghanistan nach Deutschland, seine Lehrerin ließ ihn das Tagebuch lesen, die Sprache war klar, die Geschichte traurig und tröstend zugleich - es könnte noch schlimmer sein. Über die Jahre robbte sich Nakschbandi, Geschäftsführer der Produktionsfirma AVE, an den Stoff ran. Er machte erst einen Film über Verwandte von Anne Frank und dann ein Dokudrama, das die Geschichte aus der Sicht des Vaters Otto erzählt. Der Film war 2015 eine Art Präventivschlag, weil das ZDF ebenfalls dran war an dem Stoff, zusammen mit dem Produzenten Oliver Berben und der Constantin-Film. Gedreht wurde nie, weil das ZDF vergessen hatte, den Anne-Frank-Fonds in Basel zu fragen, ob der Nachlassverwalter und Inhaber der Rechte überhaupt einverstanden sei. Steinbichler und Nakschbandi gingen behutsamer vor. Der Fonds, sagt Steinbichler, habe Angebote aus Hollywood abgelehnt, von großen Namen, weil er den Stoff eher klein halten wolle. Man kann von Werktreue sprechen. Wohl in keinem Anne-Frank-Film wird so viel aus dem Tagebuch gelesen, der Zuschauer derart direkt angesprochen. Leicht war es aber auch nicht mit dem Fonds. Als Steinbichler auch ein Film über Leni Riefenstahl angeboten wurde, tobte der Fonds, Frank sei kein "Teppichvorleger für die Naziregisseurin". Mittlerweile sagt der Fonds, das Riefenstahl-Projekt sei beerdigt und der Streit auch.

Als Steinbichler im März in der kleinen Kammer in Amsterdam sitzt, ist Pegida schon auf der Straße, aber die Flüchtlinge sind noch nicht das Thema, das es heute ist. Damals sagte Steinbichler schon: "Das Schicksal von Anne Frank passt in die Zeit." Wenn man den Film sieht, merkt man, dass nichts auserzählt ist. Dass es nur um die Art geht, wie man es tut. Es wird nichts überhöht, es werden keine Denkmäler gebaut oder Botschaften versendet. Es ist, wie es ist, wie es war - und stärker kann es auch nicht werden. Näher als durch den Film kommt man Anne Frank nur beim Lesen ihres Buches. Der Film ist nicht Teil der endlosen Vermarktungskette geworden. Ein Erfolg sollte er aber schon sein. Regisseur Steinbichler sagt: "Es wäre das Größte, wenn Schulen sagen, da gehen wir zusammen rein."

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