Boston:Der Skandal, um den es in "Spotlight" geht

HAFT FÜR US-PRIESTER WEGEN KINDESMISSBRAUCHS

John Geoghan verlässt das Gericht in Cambridge, Massachusetts am 21. Februar 2002, nachdem er zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde.

(Foto: DPA)

Im Jahr 2002 erschien ein Artikel im "Boston Globe", der die katholische Kirche in den USA in ihren Grundfesten erschüttern sollte.

Von Dominik Fürst

Am 6. Januar 2002 machte die US-amerikanische Tageszeitung The Boston Globe einen Skandal öffentlich, an dessen Aufklärung ein Investigativ-Team namens "Spotlight" monatelang gearbeitet hatte. "Kirche ließ jahrelang Missbrauch durch Priester zu" - so lautete die Überschrift des ersten Textes einer langen Reihe von Artikeln, die sich mit Hunderten Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche und dem System, das sie deckte, befasste. Im Zentrum des Bostoner Skandals stand der pädophile Priester John Geoghan. Er sollte keine zwei Jahre später tot sein.

Geoghan, zu dem Zeitpunkt 66 Jahre alt, stand unmittelbar vor einem Strafprozess, als der Artikel erschien. Ein kurzer Bericht über den Fall war es auch, der den neuen Herausgeber des Boston Globe, Marty Baron, aufmerksam machte und so den Anstoß zur intensiven Recherche gab. Geoghan hatte sich seit den 1960er Jahren in mehreren Pfarreien in der Gegend um Boston an Kindern vergangen. Seine Opfer waren in fast allen Fällen Schuljungen aus sozial schwachen Familien, eines war erst vier Jahre alt. Geoghans Masche war es offenbar, das Vertrauen alleinerziehender, überforderter Mütter mit mehreren Kindern zu gewinnen und diese Kinder auf ein Eis einzuladen, ihnen vorzulesen oder sie ins Bett zu bringen. In diesen Situationen verging er sich dann an ihnen.

Ein zentrale Figur in dem Skandal sitzt heute im Vatikan

Der Skandal hinter dem Skandal: Das Erzbistum Boston wusste Bescheid - und schob Geoghan, jedesmal wenn Vorwürfe gegen den Priester erhoben wurden, in eine andere Pfarrei, wo der Mann weiter Kinder missbrauchte. Die zentrale Frage des Boston Globe also lautete: "Warum brauchten drei aufeinanderfolgende Kardinäle und viele Bischöfe 34 Jahre, um Kinder von Geoghan fernzuhalten?"

Das Spotlight-Team, das in Gerichts- und Krankenakten recherchierte, fand heraus, dass Kardinal Bernard Law vom Erzbistum Boston Geoghan 1984 in die Pfarrei St. Julia versetzte, obwohl der seine beiden vorherigen Stellen bereits wegen des Missbrauchs von Kindern verloren hatte. Geoghan wiederum leugnete entweder seine Taten oder bezeichnete seine Neigung als nicht "ernst". Mehrere Psychiater stuften ihn als "geheilt" ein. Priester, die protestierten, wurden in andere Gemeinden versetzt. Jahrelang schwieg die katholische Kirche in Boston beharrlich und brachte auch Kritiker aus den eigenen Reihen systematisch zum Schweigen.

Erst die Journalisten des Boston Globe verliehen der Ungerechtigkeit Ausdruck. Als der oben erwähnte Artikel erschien, liefen bereits 84 Verfahren gegen Geoghan. Das Erzbistum hatte bis dahin dafür gesorgt, dass die entsprechenden Gerichtsdokumente versiegelt blieben. Erst die Zeitung hatte deren Veröffentlichung erwirkt. Plötzlich schaute alle Öffentlichkeit auf Boston, die Kirche konnte sich nicht mehr wegducken. In einem weiteren Artikel deckten die Reporter auf, wie das Erzbistum Boston Missbrauchsvorwürfe gegen mindestens 70 Priester in aller Stille beigelegt hatte. Geoghan wurde zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Sein Status als Priester und Kleriker war ihm von der Kirche bereits 1998 entzogen worden.

Kardinal Law, der immer wieder weggesehen und den Missbrauch vertuscht hatte, entging einer harten Strafe. Obwohl er die "zentrale Figur in einem Skandal von kriminellem Missbrauch, Verleugnung, Schmiergeld und Vertuschung [war], der in der ganzen Welt nachhallt", wie der Boston Globe schrieb, wurde er juristisch nicht belangt. Er legte auf den starken öffentlichen Druck hin lediglich die Leitung des Erzbistums nieder und befindet sich heute, im Jahr 2016, in einer komfortablen Position innerhalb des Vatikans.

Der Prozess gegen Geoghan und vier weitere katholische Priester ermutigte Opfer sexuellen Missbrauchs, die jahrelang geschwiegen hatten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Tausende Missbrauchsfälle kamen ans Licht. Die katholische Kirche stürzte in den USA in eine schwere Krise. Auch in anderen Ländern wie Irland, Australien und Kanada meldeten sich Betroffene. Die Strategie, den Missbrauch von Kindern durch Priester zu vertuschen, war - das wurde jetzt klar - innerhalb der Kirche weit verbreitet.

Das Reporterteam des Boston Globe erhielt 2003 den Pulitzer-Preis verliehen, die wichtigste Auszeichnung für Journalisten, für seine "mutige, umfangreiche Berichterstattung zu seinen Enthüllungen des sexuellen Missbrauchs durch Priester in der römisch-katholischen Kirche". Der jetzt mit dem Oscar für den besten Film prämierte "Spotlight" handelt von diesen Enthüllungen und der mühevollen Kleinstarbeit, die ihnen vorausging. Es ist kein glamouröser Film, er bildet, auch wenn er sich Freiheiten nimmt, die triste Wirklichkeit ab.

John Geoghan, dem Missbrauch in mehr als hundert Fällen vorgeworfen wurde, wurde von einem Mitgefangenen erdrosselt, als er gerade ein Jahr seiner Haftstrafe abgesessen hatte.

Linktipps

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: