Faktentreue:Oscar-Gewinner "Spotlight": Entwaffnend ehrlich

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Das "Spotlight"-Team in Action: Sascha Pfeifer (Rachel McAdams), Michael Rezendes (Mark Ruffalo) und Matt Carroll (Brian d'Arcy, von links nach rechts) bei der Recherche. (Foto: dpa)

Der Film über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche zeigt mühsame journalistische Recherche. Das ist sperrig - doch es erweist sich als Erfolgsrezept.

Von Paul Katzenberger

Kann es sein, dass in Zeiten der Hysterie Werte wie Bodenständigkeit, Ausdauer und Loyalität wieder zunehmend gefragt sind? Die Auszeichnung des Dramas "Spotlight" mit dem Oscar für den aktuell besten Film spricht dafür, die Frage mit "Ja" zu beantworten.

Denn in der Ära von Facebook, Twitter und den Shitstorms, die auf diesen Kanälen täglich verbreitet werden, wirkt der journalistische Kriminalfilm wie aus einer anderen Zeit. Er begibt sich in die Tiefebene des investigativen Reporterhandwerks, das so viel mühsamer, frustrierender und fordernder ist als der neue "Bürgerjournalismus" mit seinen schnell geschossenen Handy-Fotos und hastig verbreiteten Ein-Tages-Skandalen.

Die Journalisten, die "Spotlight" anhand eines wahren Falles im Jahr 2001 bei der Arbeit zeigt, packen hingegen ein richtig großes Thema an - so gewaltig, dass ihre erfolgreiche Recherche die ganze Welt bis heute bewegt: der sexuelle Missbrauch von Kindern in der Katholischen Kirche, der heute als systemisches und globales Problem erkannt worden ist.

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2001 deckten Journalisten einen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Boston auf. "Spotlight" erzählt die Geschichte ruhig und spannend zugleich.

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Die liberale US-Tageszeitung Boston Globe und ihr traditionsreiches Investigativteam "Spotlight" förderten diese Erkenntnis zu Tage, als sie durch mühsame und monatelang Recherche nachweisen konnten, dass es in der katholischen Kirche Bostons über Jahrzehnte hinweg zu sexuellem Missbrauch in einer Dimension gekommen war, die bis dahin unvorstellbar war. Dafür bekamen die Journalisten 2003 den Pulitzer-Preis, den höchsten Medienpreis in den USA.

Sexueller Missbrauch und das Klein-Klein investigativ-journalistischer Arbeit eignen sich als Themen kaum für Glamour und für Rote-Teppich-Galas, was die Auszeichnung von "Spotlight" mit dem Oscar per se besonders erscheinen lässt. Das gilt umso mehr, als der Film der Mühsal, dem Frust und der zeitweiligen Eintönigkeit investigativer Recherche keineswegs ausweicht. Ganz im Gegenteil: Er macht sie zu seinem Thema.

Große Ahnungslosigkeit

Die Belohnung dafür ist die Authenzität, die dem Film nun von allen Seiten attestiert wird. Einer der glaubwürdigsten Aspekte an "Spotlight" sei die dargestellte Ahnungslosigkeit, mit der die Journalisten ihre Recherche begannen, schreibt Stephen Engelberg, Chefredakteur von ProPublica, einer gemeinnützigen Stiftung in New York, die den investigativen Journalismus fördert: "Am Anfang stolpern sie herum, ohne den leisesten Schimmer davon zu haben, wie die Kirchenbürokratie funktioniert."

Auch an anderer Stelle ist "Spotlight" entwaffnend ehrlich. So verschweigt der Film nicht, dass das Übel sexuellen Missbrauchs in der Kirche zu Beginn der Recherchen beim Boston Globe überhaupt nichts Neues war. Zeitungen aus Dallas und Portland hatten große Berichte darüber veröffentlicht, und auch in Boston gab es öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema, da der Fall des pädophilen Priesters John Geoghan vor Gericht gelandet war. Die örtliche Wochenzeitung Boston Phoenix war darauf groß eingestiegen - ohne große Resonanz. Die leitenden Globe-Redakteure glaubten daher zunächst überhaupt nicht daran, dass dies ein Thema sein könnte.

Nur weil der neue Chefredakteur Martin Baron die Brisanz des Skandals erkannte, arbeitete sich das "Spotlight"-Team dann doch in den Fall ein. Baron, heute Chefredakteur der Washington Post, bescheinigt dem Film einen hohen Wahrheitsgehalt, obwohl er sich selbst nicht immer als schmeichelhaft dargestellt empfindet: "Liev Schreiber ( der Baron-Darsteller im Film, Anm. d. Red.) zeigt mich ... als stoischen, humorlosen und etwas sturen Kerl, den viele meiner Kollegen sofort erkennen, der meinen besten Freunden aber sicher etwas fremd ist."

Doch er müsste ein noch viel größerer Griesgram als im Film sein, wenn er sich über den Film ernsthaft beschweren wollte, schreibt Baron weiter. Regisseur Tom McCarthy und Drehbuchautor Josh Singer hätten das Geschehen in einer Weise durchleuchtet, wie er es noch nie erlebt habe. "Sie führten scheinbar endlose Gespräche mit Journalisten, Rechtsanwälten, Opfern, Experten und Bostoner Bürgern über das Thema kirchlichen Missbrauchs.... Tom und Josh wussten mehr über die Vorgänge beim Globe als ich."

Baron erinnert allerdings auch daran, dass "Spotlight" keine Dokumentation ist, sondern ein Spielfilm. Im Großen und Ganzen stelle der Film den Gang der Dinge zutreffend dar - doch er stenografiere nicht jedes Gespräch und jede Begegnung mit. "Das Leben entfaltet sich nicht so geradlinig wie in einem Zwei-Stunden-Film, der neue Figuren und Sachlagen kohärent zusammenfügen muss."

Aber selbst bei seinen fiktiven Elementen ist der Film keineswegs dazu angetan, Geschichtsklitterung zu Gunsten seiner Helden zu betreiben: In einer Szene macht ein dubioser Opferanwalt die "Spotlight"-Redakteure darauf aufmerksam, dass er ihnen schon vor Jahren eine Liste mit den Namen 20 pädophiler Priester zugesandt habe, doch damals habe der Boston Globe das weitgehend ignoriert.

Pulitzer-Preisträger mit Fehlern

Ganz genauso habe es sich nicht zugetragen, sagt "Spotlight"-Teamchef Walter Robinson dem Unterhaltungsmagazin Entertainment Weekly. Das Gespräch sei Fiktion und bringe doch zutreffend die Fehlbarkeit zum Ausdruck, die es auch bei den Medien gebe: "Wie jeder Journalist, der so lange wie ich unterwegs ist, habe ich einen Beitrag zu den vielen Fehlern geleistet, die gemacht werden."

Wenn ein Film bei einem Pulitzer-Preisträger so viel Demut bewirkt, dann hat die Academy in diesen hysterischen Zeiten wohl etwas richtig verstanden.

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