Architektur:Haus aus Müll

Architektur: In Deutschland gibt es erst ein Earthship, in Kreßberg, Baden-Württemberg.

In Deutschland gibt es erst ein Earthship, in Kreßberg, Baden-Württemberg.

(Foto: Earthship/Schloss Tempelhof)

Es besteht aus Autoreifen, Fliesen und Flaschen und produziert selbst Energie: Zu Besuch im Erdschiff-Haus der Gemeinschaft Schloss Tempelhof.

Von natur-Autorin Sigrid Krügel

2012 ist Maschinenbauingenieur Max Thulé mit seiner Familie nach Schloss Tempelhof bei Schwäbisch Hall gezogen. 18 Monate lang war der Mann mit der Wollmütze und den schweren Arbeitsschuhen im Lastwagen mit seiner Frau und den drei Töchtern in Europa unterwegs, auf der Suche nach alternativen Lebensformen. In Tempelhof hat er sie endlich gefunden. Jetzt steht er - die jüngste und vierte Tochter im Tragetuch vor den Bauch geschnallt - auf der Baustelle des ersten deutschen Earthships und zeigt auf die im Sonnenlicht funkelnden Wände aus grünen, blauen und gelben Glasflaschen.

Das Earthship ist ein Haus aus alten Autoreifen, Fliesen und Glasflaschen, hässlich ist es deswegen nicht. Eher erinnert es an die Bauten von Friedensreich Hundertwasser in Wien oder Antoni Gaudí in Barcelona, die ebenfalls mit Bruchsteinen und bunter Keramik spielten. Und es ist autark. "Stellt Euch ein Haus vor, das sich selbst heizt, sein Wasser liefert, Essen produziert. Es braucht keine teure Technologie, recycelt seinen eigenen Abfall, hat seine eigenen Energiequellen. Es kann überall und von jedem gebaut werden, aus Dingen, die unsere Gesellschaft wegwirft." So beschreibt der US-Amerikaner Michael Reynolds, der das Earthship vor 40 Jahren erfunden hat, sein Konzept, das er inzwischen tausendmal weltweit umgesetzt hat.

1000 Autoreifen verbaut

Ein großes U aus Altreifen, die mit gestampfter Erde gefüllt werden, bildet auf drei Seiten das Skelett des Earthships und dient mit einem dahinter aufgeschütteten Erdwall als thermischer Speicher. "Wir haben rund 1000 Autoreifen verbaut", erzählt Max Thulé. Auf der nach Süden ausgerichteten Seite befindet sich über die gesamte Länge von 30 Metern ein verglaster Wintergarten, in dem Gemüse und Früchte für die Selbstversorgung angebaut werden. Die Frischluft wird durch Rohre im Erdwall geleitet und dabei vorgewärmt. Dieses komplexe System ersetzt die klassische Heizung.

Der benötigte Strom wird durch Photovoltaik erzeugt und in Batterien gespeichert, das Brauchwasser über Solarenergie erwärmt. Regenwasser wird über das begrünte Dach gesammelt, in Zisternen gespeichert und für die Toilettenspülung und Waschmaschine genutzt. Als Trinkwasser ist es nicht zugelassen, das kommt aus der Leitung. "Die Gesundheitsbehörden konnten wir nicht knacken", sagt Max Thulé. Fast alle Hürden im Baurecht konnten dank wohlwollender Ämter und Behörden genommen werden. "Aber wir dürfen kein Regenwasser trinken." Der Anschlusszwang an die öffentliche Wasserversorgung und die Abwasserkanalisation gilt auch für das Earthship - der einzige Schönheitsfehler im ansonsten autarken Haus.

Aus natur 03/2016

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    Der Text stammt aus der Dezember-Ausgabe von natur, dem Magazin für Natur, Umwelt und nachhaltiges Leben. Er erscheint hier in einer Kooperation. Mehr aktuelle Themen aus dem Heft 03/2016 auf natur.de...

Rund 25 Menschen werden im Earthship gemeinsam wohnen, kochen, essen, diskutieren und ihre Freizeit verbringen. Familien und Singles, Jugendliche und Pensionäre. "Wir wollten enger zusammenleben", sagt Max Thulé. Auf 155 Quadratmetern gibt es einen großen Gemeinschaftsraum, eine Küche und sanitäre Anlagen. Geschlafen wird in Bauwagen und Jurten, die hufeisenförmig um das Earthship gruppiert und über Stromleitungen mit ihm verbunden sind. Sie dienen auch als Rückzugsort.

Gärtnerei, Bäckerei, Ziegenherde samt Käserei, Hühner, Bienenvölker, Schweine

Aus dem autarken Müllhaus mit seinen 14 Satelliten will Tempelhof weitere Wohnformen entwickeln und zum Nachmachen animieren. Auch das Bauen selbst war ein Experiment: Im September vergangenen Jahres ging's los. Rund 70 freiwillige Helfer aus 17 Nationen arbeiteten mit Michael Reynolds, seiner Crew und einem Team vom Tempelhof am Earthship. Seit Weihnachten konnten die Bewohner ihr neues Zuhause Stück um Stück in Besitz nehmen. Im Frühjahr irgendwann soll dann offiziell Einweihung gefeiert werden.

Das Earthship ist ein weiterer Schritt zu einem möglichst autarken Leben, sagt Roman Huber, Gründungsmitglied der Dorfgemeinschaft. Mit Lebensmitteln versorgt sich Schloss Tempelhof inzwischen zu 60 bis 70 Prozent selbst. Es gibt eine Gärtnerei, eine Bäckerei, eine Ziegenherde samt Käserei, Hühner, Bienenvölker, Schweine, und vielleicht kommt irgendwann eine kleine Kuhherde dazu. "Mit 150 Leuten kann man keinen komplett autarken Kreislauf aufbauen", sagt Huber.

"Aber wir wollen den Selbstversorgungsgrad weiter erhöhen." Statt mit Öl wird inzwischen mit Holzpellets geheizt, das Pelletwerk steht gleich nebenan. Beim Strom liegt die Selbstversorgung bei 30 Prozent. Die alten Gebäude werden nach und nach saniert. "Auch wir müssen den Spagat zwischen Ökologie und Ökonomie schaffen." Alles auf einmal geht nicht.

Alles gehört allen

100 Erwachsene und 40 Kinder leben heute in Tempelhof, Tendenz steigend. Als alles begann, 2010, waren es gerade mal 20, die ihren Traum von einem selbstverantwortlichen und nachhaltigen Leben verwirklichen wollten. Aus dem leer stehenden Schloss samt Wohnhäusern, Werkstätten, Gewerbeflächen und Mehrzweckhalle sowie 26 Hektar Agrarland hat sich in nur fünf Jahren ein lebendiges kleines Dorf mit Kindergarten, Schule, Laden und Café entwickelt.

Earthship/Schloss Tempelhof

Gemeinsam anpacken: Das Baumaterial ist Erde. Und alte Autoreifen.

(Foto: Earthship/Schloss Tempelhof)

Alles gehört allen, Entscheidungen werden basisdemokratisch in der Dorfversammlung gefällt. "Privatbesitz wird immer weiter reduziert", sagt Stefanie Raysz, für die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinschaft zuständig. "Wir teilen immer mehr." Von der Waschmaschine über den Rasenmäher bis zum Auto. "Das macht flexibel." Auch im Kopf.

Fragen wie den Umgang mit Elektronik werden gemeinsam diskutiert. Es gibt schnelles Internet, aber kein WLAN, es gibt Handys, aber ein Handyverbot in der Kantine. "Die Frage ist für uns immer, bis wohin uns moderne Technik unterstützt und wo sie unsere Werte untergräbt", sagt Stefanie Raysz. Auch wenn die Deutschen immer häufiger alleine leben - 40 Prozent aller Haushalte sind Single-Haushalte, hat das Bundesumweltamt kürzlich gemeldet - das Interesse an neuen Formen des Zusammenlebens wächst, so ihre Erfahrung. Monat für Monat kommen Leute aus ganz Deutschland nach Schloss Tempelhof, um die Zukunftswerkstatt kennenzulernen. Manche, wie Max Thulé und seine Familie, bleiben.

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