Missbrauchsskandal:Leiter der Odenwaldschule: Der Blender vom Zauberberg

Missbrauchsskandal: Beschauliche Szene im hessischen Heppenheim, im Hintergrund die Internatshäuser der Odenwaldschule - an der Reformschule hatten Lehrer systematisch Schüler sexuell missbraucht.

Beschauliche Szene im hessischen Heppenheim, im Hintergrund die Internatshäuser der Odenwaldschule - an der Reformschule hatten Lehrer systematisch Schüler sexuell missbraucht.

(Foto: Regina Schmeken)

Während die Schule abgewickelt wird, erscheint eine Biografie des früheren Leiters Gerold Becker. Das Buch arbeitet die Affäre auf - und birgt weitere böse Überraschungen.

Buchkritik von Tanjev Schultz

Der schöne, schaurige Ort wird verkauft: Neun Hektar mit 31 Gebäuden. Die Anlage "in idyllischer Lage im vorderen Odenwald" steht unter Denkmalschutz, heißt es im Inserat der Insolvenzverwalterin. Das also ist übrig geblieben von der Odenwaldschule, die 100 Jahre lang als Wunderwerk der Reformpädagogik betrachtet wurde, als ein Zauberberg, auf dem die Schüler frei atmen konnten. In Wahrheit war sie für viele eine Falle. Ein Ort des Zwangs, der Gewalt und des perfiden Machtmissbrauchs durch pädokriminelle Lehrer. Einer der Täter war der Schulleiter selbst: Gerold Becker. Er kam Ende der Sechzigerjahre an das Internat, blieb bis Mitte der Achtziger - und stieg in dieser Zeit zu einem Star der deutschen Pädagogen-Zunft auf. Den Anfang vom Ende der Schule, die er zugrunde richtete, hat Becker noch erlebt. Doch dann starb er im Frühjahr 2010, wenige Wochen, nachdem er öffentlich entlarvt worden war.

Wer war Gerold Becker? Wie konnte er so viele Jahre sein Unwesen treiben und zugleich als bewunderter Pädagoge auftreten? Als alles aufplatzte, war auch zu sehen, wie wenig man eigentlich wusste über diesen Mann, der seine letzten Lebensjahre in Berlin am Kudamm wohnte, eng verbunden, auch räumlich, mit seinem alten Gefährten Hartmut von Hentig, dem noch berühmteren Pädagogen und Groß-Intellektuellen. Hentig hielt trotzig zu seinem Freund und zog sich damit selbst mit in den Abgrund, der sich da öffnete. Endlich blickten Medien, Pädagogen und Professoren hinter die Fassaden des Herder- und des Goethe-Hauses der Odenwaldschule (die Gebäude dort waren traditionell nach Geistesgrößen benannt). Das Blenden hatte ein Ende.

Wie gut Gerold Becker die Kunst des Tarnens und Täuschens beherrschte, enthüllt in vielen Details ein dickes, ebenso als Biografie wie als Skandalchronik angelegtes Buch des Erziehungswissenschaftlers Jürgen Oelkers. In einer beeindruckenden Rechercheleistung ist er den teilweise verwischten Spuren eines Mannes gefolgt, dem man schon früher auf die Schliche hätte kommen können. Becker profitierte nicht nur von seiner eigenen Chuzpe, sondern auch von einem Netzwerk, das ihn protegierte und immer wieder auffing.

Dazu gehörte zum Beispiel Hellmut Becker (mit Gerold nicht verwandt), der als Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung großen Einfluss ausübte. Er könnte nicht nur dafür gesorgt haben, dass sein Namensvetter Leiter der Odenwaldschule wurde. Hellmut Becker dürfte auch, so liest Oelkers die Indizienlage, eine Rolle gespielt haben, als Gerold Becker scheinbar ohne Not seinen Posten am Internat aufgab und für eine Weile mittellos wurde, bis ihn sein Netzwerk wieder mit Aufgaben versorgte. Es gab genügend Leute, die wussten oder ahnten, was Becker trieb - und die versuchten, die Sache diskret und ohne Ansehensverlust zu lösen.

Gerold Becker soll schon zu Beginn seiner Zeit an der Schule aufgefallen sein, weil er sich ausgerechnet an einen Neffen Hellmut Beckers heranmachte. Der wehrte sich und informierte seinen Onkel. Gerold Becker gelang es, sich herauszureden. Auch später hat es immer wieder Situationen gegeben, in denen der große Skandal nahegelegen hätte. Eine Schulsekretärin soll pikante Einblicke gehabt haben, und belegt ist, dass sich ein Schüler bei einem Lehrer beschwerte, weil er gesehen hatte, wie Becker als Spanner unterwegs war und duschende Jungs beobachtete. Der Lehrer wiegelte ab und ermahnte den Jungen sogar, sich nicht so zu äußern.

Es war schwer, das Schweigekartell zu knacken. Neben Becker gab es noch mehrere andere Täter an der Schule, und wer aufbegehrte, wurde kaltgestellt. Becker scharte Menschen um sich, die ihm etwas schuldig waren. Dazu kam der linke Zeitgeist, der auf sexuelle Befreiung drängte; schnell galt man als verklemmter Spießer, wenn man auf die Achtung von Schamgrenzen pochte. Für einen Mann wie Becker war die vermeintlich progressive Odenwaldschule das perfekte Täterfeld.

Becker soll Linz "Hals über Kopf" verlassen haben

Für sie verzichtete er sogar darauf, seinem Förderer Hartmut von Hentig nach Bielefeld zu folgen, wo dieser die Laborschule aufbaute. Die beiden hatten sich in Göttingen an der Universität kennengelernt. Becker wollte dort promovieren, gehörte formal aber als Mitarbeiter nicht zu Hentig, sondern zum Lehrstuhl von Heinrich Roth. Aus der pädagogischen Promotion wurde nichts, Becker scheiterte daran und war auch sonst eigentlich nicht der große Pädagogik-Experte, als der er auftrat.

Er hatte evangelische Theologie studiert und als Vikar in Linz angefangen, dort aber nicht abgeschlossen. Die Umstände des Abbruchs sind nebulös. Das Buch wertet die Ereignisse so, dass schon damals Beckers sexuelle Neigungen zum Problem geworden waren. Becker soll Linz "Hals über Kopf" verlassen haben. Nun musste er neu anfangen. Er ging zurück nach Göttingen, wo seine Familie lebte, und schaffte es, als Promotionsstudent an der dortigen Universität eine zweite Karriere zu beginnen.

Becker war ein Meister darin, seine Biografie im Dunkeln zu lassen oder so umzudichten, dass er keine Nachfragen befürchten musste. Oelkers schreibt: "Er wollte ein Mann ohne Geschichte sein, und das kann nur mit seiner sexuellen Biografie zu tun haben." Abrupte Wechsel "gehörten zu seinem Täterprofil".

An keiner staatlichen Schule hätte Becker einfach so, ohne fertiges Pädagogik-Studium und ohne Lehramtsausbildung, als Lehrer anfangen können, schon gar nicht als Schulleiter. Doch an der Odenwaldschule war vieles möglich. Dass Becker früher in einer evangelischen Jungengruppe aktiv war, konnte ihm als Praxiserfahrung angerechnet werden. Dass er schon damals einen Zwölfjährigen ausgebeutet haben soll, wussten die Kollegen am Internat sicher nicht.

Viele hätten es wohl auch gar nicht wissen wollen. Becker war in Verden aufgewachsen. Als Kind blieb er für längere Zeit ohne Vater, als dieser in den Krieg ziehen musste. Als der Vater zurückkehrte, muss das Verhältnis schwierig gewesen sein. Der Vater, der das Niedersächsische Kulturamt leitete, soll streng und cholerisch gewesen sein. Ob Gerold Becker als Kind selbst Gewalt und Missbrauch erlitten hat, ist nicht sicher; es gibt nur entsprechende Gerüchte.

"Eine ständige und sehr eigensinnige Hochstapelei"

Die Familie zog nach Göttingen, Becker blieb zunächst in Verden, um auf dem traditionsreichen Domgymnasium sein Abitur zu machen. Das war damals eine reine Jungenschule. Becker war ein sehr guter Schüler, ein kleiner Star; trotzdem spürte er eine seltsame Rivalität zu seinem älteren, intelligenten Bruder, der in der Gunst des Vaters höher zu stehen schien.

Als Quereinsteiger gelang es Gerold Becker an der Seite von Hentig, sich schnell einen Namen als Pädagoge zu machen, der er eigentlich nicht war. Seine theologische Ausbildung kam ihm zugute, denn Becker konnte über Bildung predigen, dass dem Publikum das Herz aufging. Gedeckt von seinen Freunden, hatte er wenig zu befürchten. Sein Leben war, wie Oelkers schreibt, "eine ständige und sehr eigensinnige Hochstapelei". Zwar ist sie schließlich doch noch aufgeflogen, für die Opfer von Beckers Tarnung aber war es zu spät.

Jürgen Oelkers: Pädagogik, Elite, Missbrauch. Die "Karriere" des Gerold Becker, Beltz Juventa 2016, 608 Seiten, 58 Euro.

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