Buchmesse:Kontinent der Bleibenden

Illustrationen Literatur Beilage 15. März 2016

Republik oder Festung: Auf der Leipziger Buchmesse diskutiert man "Europa 21": in einer Messehalle, die vor Kurzem noch ein Notaufnahmelager für 1900 Flüchtlinge war.

Von Bernd Graff

Immer dann, wenn sich die Geschichte zeigt, erwischt sie die Menschen auf dem falschen Fuß. Und das, obwohl sie sich längst angekündigt hatte. Alle hätten wissen können, was sich ereignen wird. Oft ist Geschichte also nichts anderes als die Chronik einer angekündigten Katastrophe. Das ist unsere europäische Gegenwart jetzt. Buchmessen sind Bücherfeste, sicher. In erster Linie sind sie aber Feste der Kommunikation. Das wunderbare Kommunikationsfest der Leipziger Buchmesse, wunderbar schon deswegen, weil es die gesamte Stadt bewegt, ist dezidiert politisch. Die Messe will umtreiben, Orte in der Stadt aufmischen, Begegnungen ermöglichen. Oder die gezielte Verunsicherung fadenscheiniger Gewissheiten.

Darum wurde in diesem Jahr in Zusammenarbeit mit der Robert Bosch Stiftung der Schwerpunkt "Europa 21" gewählt. Nicht ein Gastland stellt sich vor, sondern Europa thematisiert sich selber, problematisiert sich selber. Die alles bestimmende Frage lautet: Wie konnte sich der alte Kontinent, der übrigens den Namen einer syrischen Prinzessin trägt, über Jahre hinweg so blind, ja ignorant einer Flüchtlingskrise gegenüber zeigen, die absehbar war? Und wann begreifen die Länder Europas endlich, dass die Flüchtlingskrise nicht dann vorbei ist, wenn keine neuen Menschen mehr über die Grenzen kommen? Wie also arrangiert man sich mit "den Bleibenden"? So der Titel des klugen, soeben erschienenen Buches des Journalisten Christian Jakob, welcher der Frage nachgeht, wie Flüchtlinge seit fast einem Vierteljahrhundert Deutschland verändern. Darin stellt er unter anderem fest, dass Errungenschaften in der deutschen Flüchtlingspolitik inzwischen wieder zurückgenommen werden. "Der Satz: ,Wir sind kein Einwanderungsland' ist jetzt wieder zu hören. Den hatten wir schon mal hinter uns."

Jakob sagt dies in Messehalle 4. Sie war bis vor Kurzem eine Notaufnahmeunterkunft für 1900 Flüchtlinge. Jetzt beherbergt sie das "Café Europa", einen fantastischen Ort für den notwendigen Diskurs, auch ein Ort für Fantasien. Scharf greift hier Borka Pavićević, sie ist Leiterin des "Zentrums für kulturelle Dekontamination" in Belgrad, die aktuelle Türkei-Politik Europas an, sich auf einen faulen Deal mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan einzulassen. "Europa war immer auch die fortschrittliche Selbstkritik an Europa. Wir verabschieden uns aber von den Grundsätzen des Liberté, Égalité, Fraternité. Das sagen uns jetzt die Flüchtlinge, sie halten uns angesichts des sinnlosen Eurozentrismus den Spiegel vor und fragen: Wer seid ihr?"

Die Frage hat es in sich. Noch immer wird Politik von Stimmungen, Kleinmut, wirren Forderungen bestimmt. Ganz so, als ob sich ein Zustand vor der Krise wiederherstellen lasse. Das wird nicht passieren. Infolge einer zunehmenden Destabilisierung vieler Regionen des Nahen und Mittleren Ostens und Afrikas sowie aufgrund des Klimawandels sind etwa 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Ein Teil von ihnen wird nach Europa kommen. Es stellt sich also die Frage, wie wir mit ihnen, wie wir alle gemeinsam in Zukunft miteinander leben wollen.

Um überhaupt zukunftsfähig zu werden, müsse Europa zu einer Republik werden. Das fordert Ulrike Guérot, die Direktorin des European Democracy Lab, in ihrem neuesten Buch. Sie stellt fest, sehr robust argumentierend übrigens, dass das gegenwärtige EU-System den Willen der Mehrheit seiner Bürger nicht mehr abbilden könne. Es verfahre systemimmanent, wenn es nun die Re-Nationalisierung des Kontinents verfolge. Schließlich habe Deutschland, "das immer Krisengewinner war und nun Solidarität" einfordere, sich nie solidarisch gezeigt und versuche nun, die "Grenzsicherung auf die Nachbarn abzuschieben".

Wie also wollen wir miteinander leben? Nicht unter der Diktatur einer Leitkultur, so viel ist sicher. Das macht die junge syrische Autorin Luna Al-Mousli, die es nach Österreich verschlagen hat, äußerst herzerfrischend, äußerst selbstbewusst deutlich. Sie hat "Eine Träne. Ein Lächeln" vorgelegt, ein Erinnerungsbuch über ihre Kindheit in Damaskus - auf Deutsch und auf Arabisch. "Man bedenkt das hier kaum, aber alle Flüchtlinge haben ein Leben vor ihrer Flucht geführt, sie haben Erinnerungen daran. Und die müssen sie artikulieren. Sie sind Teil ihrer Identität. Nur so ist es mir gelungen, Österreich in mich zu integrieren."

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