Kolumne:Schwarz

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Im Supermarkt gemustert werden wie ein Dieb: Für Afroamerikaner in den USA ist das eine Alltagserfahrung. Werden künftige Präsidenten das nachempfinden können?

Von Carolin Emcke

Als Präsident Obama am 18. Juli 2013 im Weißen Haus vor die Presse trat, lag das Urteil im Fall George Zimmerman genau eine Woche zurück. Eine sechsköpfige Jury hatte den Mann, der den 17-jährigen afro-amerikanischen Schüler Trayvon Martin in Sanford, Florida, erschossen hatte, für nicht schuldig befunden und ihn vom Vorwurf des Mordes mit bedingtem Vorsatz freigesprochen. Er wolle nicht das Urteil selbst kritisieren, begann Barack Obama vorsichtig, das Gericht habe professionell gearbeitet, Staatsanwaltschaft und Verteidiger hätten ihre Argumente vorgetragen, die Jury sei vorschriftsmäßig in ihre Aufgabe eingewiesen worden. Das Urteil sei gesprochen. So funktioniere nun einmal das System. Aber, fügte der erste afroamerikanische Präsident der Vereinigten Staaten an, er wolle doch etwas zu dem Kontext sagen und wie sich Menschen angesichts dieses Urteils fühlten: "Wissen Sie, als Trayvon Martin erschossen wurde, habe ich gesagt, das hätte mein Sohn sein können. Anders gesagt: Trayvon Martin hätte ich vor 35 Jahren sein können."

Wenn Barack Obama das Weiße Haus verlässt, geht mit ihm ein Stück Hoffnung

Noch ist nicht sicher, wer im Präsidentschaftswahlkampf 2017 für die Demokraten oder die Republikaner antreten wird. Im Moment dominiert das Entsetzen über die zunehmend realistische Aussicht, mit Donald Trump einen so menschenverachtenden wie wirren Kandidaten um das Amt des Präsidenten zu erhalten. Es ist inzwischen nicht einmal mehr sicher, dass der proletenhafte Milliardär gegen Hillary Clinton chancenlos wäre. Sicher dagegen ist allein: Wer immer im Herbst die Präsidentschaftswahlen gewinnt, wird weiß sein. Wer immer Barack Obama nachfolgt, wird einen solchen Satz wie "Trayvon Martin hätte ich sein können" nicht sagen.

Der nächste Präsident oder die nächste Präsidentin wird nicht aus eigener Erfahrung wissen, wie es ist, mit permanenter Angst vor der Polizei aufzuwachsen, der nächste Präsident oder die nächste Präsidentin wird nicht wissen, wie es ist, im Supermarkt regelmäßig und grundsätzlich wie ein Dieb beobachtet zu werden, wird nicht wissen, wie es ist, wenn Geschäftskredite ohne erkennbaren Grund abgelehnt werden, wird nicht wissen, wie es ist, von Taxifahrern "übersehen" zu werden, wird nicht wissen, wie es ist, wenn man auf der Straße geht und ringsum das Geräusch von sich verriegelnden Autotüren vernimmt. "Das passierte mir", erzählte Barack Obama an jenem Julitag 2013, um mit der ihm eigenen Selbstironie zu ergänzen, "zumindest, bevor ich Senator wurde." Wenn Barack Obama das Weiße Haus verlässt, wird auch eine Ära zu Ende gehen, in die gerade die schwarze Bevölkerung große, vielleicht übergroße Hoffnungen gesetzt hatte: dass sich die amerikanische Gesellschaft unter einem schwarzen Präsidenten dem ihr immer noch innewohnenden Rassismus stellen würde.

Nach wie vor dokumentieren die Zahlen die soziale Spaltung der Vereinigten Staaten und die Benachteiligung von Schwarzen. Von den 2,3 Millionen Häftlingen in amerikanischen Gefängnissen sind laut einer Statistik der Bürgerrechtsorganisation NAACP allein eine Million Afroamerikaner. Dabei werden Afroamerikaner sechs Mal so häufig zu Haftstrafen verurteilt wie Weiße. Nach einer Studie der Organisation "Sentencing Project" erhalten Afroamerikaner für ein Drogendelikt im Schnitt eine annähernd so lange Haftstrafe (58,7 Monate) wie weiße Straftäter für ein Gewaltverbrechen (61,7 Monate). Zwischen 1980 und 2013 wurden in den USA mehr als 260 000 afroamerikanische Männer ermordet. Zum Vergleich: Im gesamten Vietnamkrieg starben 58 220 amerikanische Soldaten.

In einem erschütternden Brief an seinen Sohn, der als Buch gerade unter dem Titel "Zwischen mir und der Welt" auf Deutsch erschienen ist, schreibt der afroamerikanische Intellektuelle Ta-Nehisi Coates: "Ich weiß nicht, wie es ist, mit einem schwarzen Präsidenten aufzuwachsen, mit sozialen Netzwerken, allgegenwärtigen Medien und schwarzen Frauen, die sich ihre Haare nicht glätten." Coates betont, dass es für jede Generation, jeden Einzelnen natürlich anders sei, schwarz zu sein. Aber die historische Erfahrung des Rassismus bleibt und wiederholt sich für Vater wie Sohn. In die Jugend von Ta-Nehisi Coates' Sohn fielen nicht nur Obamas Präsidentschaft, sondern allein in dessen zweiter Amtszeit auch die Morde an Trayvon Martin, Michael Brown, Eric Garner und das Massaker an den Gläubigen in der Emanuel AME Church in Charleston, South Carolina. An dem Tag im November 2014, als im Fernsehen vermeldet wurde, dass gegen die weißen Polizisten, die den schwarzen Schüler Michael Brown in Ferguson erschossen hatten, nicht einmal Anklage erhoben würde, zerbrach die Zuversicht des jungen Coates. Mit den Worten "ich muss los" zog er sich in sein Zimmer zurück. Der Vater hörte ihn weinen.

Vielleicht ist es gerade die traurige Einsicht, dass auch unter dem schwarzen Präsidenten Obama weiße Gewalt und strukturelle Benachteiligung von Afroamerikanern fortbestehen, die der Bewegung "Black Lives Matter" solche politische Aufmerksamkeit bereitet hat. Nun muss niemand schwarz sein, um sich für die Bürgerrechte von Schwarzen einzusetzen. So wie niemand jüdisch sein muss, um sich gegen Antisemitismus zu engagieren. Menschenrechte gelten schließlich nicht nur für diejenigen, die einem ähnlich sind, sondern für alle. Auch ein weißer Präsident oder eine weiße Präsidentin kann (und sollte) es als Aufgabe verstehen, sich der historischen Last der amerikanischen Geschichte zu stellen. Es beginnt ganz offensichtlich mit dem Zuhören. Als Aktivisten der "Black Lives Matter"-Bewegung die demokratischen Präsidentschaftsbewerber Clinton und Sanders bei Wahlkampfauftritten unterbrachen und zur Diskussion zwangen, hörten diese erst einmal zu - und überdachten anscheinend ihre Positionen. Clinton kritisiert inzwischen nicht nur den "systemischen Rassismus" in den USA, sie will auch die Strafjustiz reformieren. Vielleicht wird auch eines Tages, wenn es um die Ungleichbehandlung von Frauen geht, die erste Präsidentin im Weißen Haus Sätze sagen wie: "Das hätte ich sein können."

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