Kurzkritik:Karfreitagsdramatik

Drei Konzerte zweier Bach-Passionen in München zeigen, wie unterschiedlich die Auffassungen von Text und Musik ausfallen können

Johannes-Passion: Es zählt das Wort bei der Gächinger Kantorei

Am Karfreitag können Solisten schon mal Mangelware werden: Weil Sebastian Kohlhepp gerade eine Grippe hinter sich hatte, suchte er Teilentlastung von der langen Tenorpartie in der Johannes-Passion. Also kam mitten in der Aufführung im Prinzregententheater Benedikt Kristjánsson hinzu, der zuvor noch in der Matthäus-Passion des Münchener Bach-Chors im Gasteig gesungen hatte, um Kohlhepp zumindest die heikle "Erwäge"-Arie abzunehmen. Nötig wäre es vielleicht nicht mal gewesen: Kohlhepp sang jedenfalls die Partie des Evangelisten bis zum Ende mit großer Klarheit und in genauester Wortdeutung.

Es sind die Stichworte, mit denen sich auch die Konzeption des Dirigenten Hans-Christoph Rademann umreißen ließe. Denn der Chef der mit ihm angereisten Gächinger Kantorei Stuttgart ordnet Klangliches dem Wort erst einmal unter, was durchaus im Sinne Johann Sebastian Bachs sein dürfte. Sprich: Er erzählt diese Passion, indem er strikt dem inneren Rhythmus des Evangelientexts folgt. Das sorgt gerade in den Begegnungen zwischen Jesus, Pilatus und dem Volk dafür, dass das tief Verstörende, der schuldlos schuldhafte Abgrund dieser Szenen wieder unvermittelt deutlich wird. Auch weil Tareq Nazmi einen sehr konkreten, ebenfalls vom Text her gedeuteten Jesus gibt, dem der beeindruckende Krešimir Stražanac als Pilatus das bestechend ausgefeilte Charakterporträt eines Menschen zwischen herrschaftlicher Attitüde und situativer Überforderung gegenüber stellt. Doch selbst für die Choräle hat Rademann eine detaillierte Wortdeutung erarbeitet, die jeder einzelne Sänger der Gächinger Kantorei mit Anteilnahme zu füllen scheint. Die Sopranistin Joowon Chung steuert klare Linien bei, während Countertenor Benno Schachtner mit seinem lichten Timbre innige Moment schafft.

Dabei lässt sich der Klang vom Wort natürlich nicht trennen, trocken klingt diese sehr stringente Aufführung also glücklicherweise nie. Dafür sorgt schon die auf historischen Instrumenten spielende, mit prächtigen Solisten bestückte Akademie für Alte Musik Berlin - mit dunklem und zugleich warmem, also gleichsam zartbitterem Grundton. Michael Stallknecht

Matthäus-Passion: Jung besetzt mit Originalklang-Orchester

So sollte eine Passion aufgeführt werden: Liturgisch eingebunden an Karfreitag in einer Kirche und ohne Gesangsstars, aber mit ebenso überzeugenden jungen Solisten wie einem hervorragenden (Laien-) Chor und einem kleinen Originalklang-Orchester. So geschah es erneut in der Matthäuskirche am Sendlinger-Tor-Platz mit dem Münchner Motettenchor, "La Banda" und der Bachschen Matthäus-Passion.

Wie anders hört man dieses gewaltige religiöse Musik-Drama, wenn man auf ein abstraktes 50er-Jahre-Mosaik schaut, das die drei Kreuze von Golgatha andeutet und vor dem ein hagerer Christus schwebt. Es braucht keine szenische Realisierung, um sich das ganze Passionsgeschehen in seiner Drastik und Brutalität vorstellen zu können. So hört man aber auch die zu Herzen gehende Ausdrucksgewalt der Choräle anders, lebt man Kontemplation, Hoffnung, Trauer oder Auflehnung in den Arien unmittelbar mit. Benedikt Haag hatte den exzellenten Motettenchor perfekt einstudiert und legte größten Wert auf Natürlichkeit in dynamischer Gestaltung, Tempo, Phrasierung und Ausdruck. Das gab den Chorälen, die oftmals unmittelbar auf den drastischen Realismus der Turbae-Chöre folgen und plötzlich das Geschehen aus der Warte des Gläubigen betrachtet, eine betörende Innigkeit. Sie legte dar, warum früher dieses vierstimmige Juwel von der Gemeinde mitgesungen wurden.

Der Pole Jan Petryka war ein ebenso ausdrucks- wie stilsicherer Evangelist und gab auch den Tenorarien klares, lyrisch intensives Profil. Ergreifend und ganz ohne Pathos gestaltete Michael Kranebitter den Christus, dessen Worte das auch sonst in wunderbarer Balance zu den Sängern spielende Orchester mit einer feinherben Streicher-Gloriole umgab. Ludwig Mittelhammer artikulierte mit seinem in allen Lagen kernigen Bassbariton hervorragend, gab dem Judas, dem Petrus und dem Pilatus dramatisch seine Stimme, verströmte in den Bass-Arien aber auch meditative Ruhe. Katja Stuber sang die Sopran-Arien ganz ohne Süßlichkeit, während Ulrike Malotta den Schmerz der Alt-Arien bis in die Tiefe auslotete, man denke nur an das "Erbarme Dich" mit der so untröstlichen Sologeige (Thomas Fleck). Klaus Kalchschmid

Matthäus-Passion: Guttenberg mag es drastisch

Wer sich seine Karfreitags-Läuterung in der Philharmonie holt, der weiß , worauf er sich einlässt. Enoch zu Guttenberg ist hier seit vielen Jahren mit Bachs Matthäus-Passion auf 19 Uhr abonniert. Der Markenkern seiner Passion mit der Chorgemeinschaft Neubeuern und dem Orchester der KlangVerwaltung ist die Drastik. Diese Deutung mischt sich weniger in theologische oder musikologische Diskurse ein; hier geht es um die Story, die Bach ja zweifelsohne in erschütternden Klängen erzählt hat. Das Ideal der Humanität soll aufleuchten, und das gern im Großformat.

Vieles kam in diesem Jahr wohltuend kontrolliert, ja spröde. Der Eingangs-Choral "Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen" war von den Bassstimmen knackig strukturiert. Dennoch drückt Enoch zu Guttenberg bei den entscheidenden Worten aufs Gas, den Chor seitlich antänzelnd wie ein Schattenboxer: "Sehet ihn", das soll mit fünf Ausrufezeichen herausgeschmettert werden. Hell und sauber leuchten die Stimmen des Münchner Knabenchors heraus.

Durchaus flüssig geht der erste Teil vonstatten, und die Streicher beglücken mit einer nahezu vibratolosen Transparenz. Evangelist Daniel Johanssen, der zunächst überkorrekt wirkt, zieht mehr und mehr in seinen Bann. Sein Timbre ist intensiv und hell, seine Diktion angemessen spitzig, aber nie übertrieben. Er ist mit einer fabelhaften Continuo-Gruppe (Anja Lechner, Cello, Burkhard Mager, Kontrabass und Olga Watts, Cembalo) am Rand platziert und schafft mit reduzierten Mitteln Momente von emotionaler Hochspannung, die stärker erschauern lassen als etwa "O Haupt voll Blut und Wunden".

Guttenberg lässt die erste Strophe des Chorals in krassem Zeitlupen-Staccato herausmeißeln. Das hört sich eindrucksvoll an, allein: Man fühlt sich mehr körperlich gepackt als innerlich berührt. Anders ist es mit Carmela Konrads Sopran-Arien; in ihrer Stimme liegt überirdische Reinheit. Altistin Anke Vondung hat den orgelnden Ton genauso drauf wie das Mitfühlende. Kraftvoll und unangestrengt klingt der Christus von Falko Hönisch; Thomas E. Bauer ergänzt das Ensemble mit profundem Bass, Tilman Lichdi mit geschmeidigem Tenor. Eine zweischneidige Sache, die 19-Uhr-Passion. Barbara Doll

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