Außenansicht:Offene Beziehungen

Außenansicht: Christian Stecker, 36, ist Senior Research Fellow und Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES).

Christian Stecker, 36, ist Senior Research Fellow und Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES).

(Foto: oh)

In einem Vielparteiensystem wäre das Regieren mit wechselnden Mehrheiten die beste Lösung.

Von Christian Stecker

In ihren politischen Beziehungen leben die Parteien in Deutschland streng monogam. Als Regierung und Opposition gehen sie sich aus dem Weg, und in Koalitionen zwingen sie sich bei jeder Frage zu einer gemeinsamen Linie. Über Jahrzehnte versprach diese unbedingte Koalitionstreue durchaus politische Erfüllung - für die Wähler wie für die Parteien. Die früher häufigen rot-grünen und schwarz-gelben Koalitionen mussten oft nur begrenzte Gegensätze überbrücken, meist repräsentierte eines der beiden Lager auch eine gesellschaftliche Mehrheit.

Im neu entstandenen Vielparteiensystem schmerzt das rigide Koalitionskorsett mehr, als es nützt. Die Gegensätze zwischen den möglichen Regierungspartnern sind größer geworden. Momentan verhandeln die Landesparteien in Magdeburg und Mainz über komplizierte Dreierbündnisse und in Stuttgart über das absolute Novum einer grün-schwarzen Koalition. Sollten die künftigen Partner dabei den üblichen Schwur zur unbedingten Koalitionstreue leisten, werden ihnen Kompromisse abverlangt, die ihre politische Identität gefährden und sie von ihren Wählern entfremden können. Die Verkehrspolitik in Rheinland-Pfalz, die Gemeinschaftsschulen oder der islamische Religionsunterricht in Baden-Württemberg, die Flüchtlingspolitik in Sachsen-Anhalt - ein Koalitionsvertrag, der auch den Markenkern aller beteiligten Parteien unbeschädigt lässt, ist bei diesen Themen schwer vorstellbar. Nun gehört Kompromisse zu schließen zu den Kernaufgaben der Parteien. Der Fehler der geltenden Praxis liegt darin, die Kompromisssuche auf das Regierungslager zu begrenzen und die Opposition auszusperren. Ein solcher Rigorismus passt nicht zu einer Gesellschaft, in der es schon lange nicht mehr eine Mehrheit in allen politischen Fragen gibt, sondern gleichzeitig verschiedene Mehrheiten bei verschiedenen Fragen existieren. So deuten Umfragen an, dass eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler eine christdemokratisch gefärbte Wirtschaftspolitik bevorzugt, bei Bürgerrechten aber eher den Positionen von SPD, Grünen, FDP und Linken zuneigt. Diesen lagerübergreifenden Wählermehrheiten können die Parteien nur gerecht werden, wenn sie gelegentlich auch über die Grenzen von Regierung und Opposition hinweg zusammenarbeiten.

Dänemark, Schweden und Neuseeland zeigen, dass man das Koalitionskorsett ablegen kann

Verharren die Parteien im eingefahrenen Modus Regierung-gegen-Opposition, enttäuschen sie ihre Wähler. Hinter der Fassade von starren Mehrheitskoalitionen obsiegt nicht selten eine parlamentarische Minderheit, und es werden Reformen blockiert, die von einer Mehrheit befürwortet werden. Die Pkw-Maut für Ausländer, das Betreuungsgeld oder der Steuernachlass für Hotels sind jüngere Beispiele dafür, wie die mit Tauschgeschäften vergütete Koalitionstreue (von CSU und FDP) Minderheitspositionen den Weg ins Bundesgesetzblatt ebnete. Die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften, die doppelte Staatsbürgerschaft, Mindestlöhne und nach wie vor die Bürgerversicherung stehen für Politikwechsel, die lange Zeit nicht gegen das Veto der Union innerhalb der Regierungskoalition vollzogen werden konnten - obwohl dafür im Bundestag Mehrheiten mit SPD, Grünen, der Linken und teils der FDP bereitstanden. Bei genauem Hinsehen ergibt sich die Selbstverständlichkeit, mit der sich alle Parteien in das Koalitionskorsett zwängen, aus der normativen Kraft einer jahrzehntelang geübten Praxis. Weder fordern das Grundgesetz oder die Landesverfassungen von den Parteien politische Monogamie, noch gibt es überzeugende ethische Gründe dafür. Der Blick nach Neuseeland, Dänemark oder Schweden zeigt, wie das Koalitionskorsett abgelegt und offenere politische Beziehungen zum Vorteil der Parteien und der Demokratie praktiziert werden könnten. So nutzen in Neuseeland sozialdemokratische und bürgerliche Regierungen seit 1999 erfolgreich sogenannte agree-to-disagree-Klauseln. Darin definieren die Koalitionspartner wenige Themen, in denen sie sich nicht zu einer gemeinsamen Position durchringen wollen, da dies ihr politisches Profil allzu stark verwässern würde.

Mit solchen Klauseln könnten auch die künftigen Koalitionäre in den Ländern unauflösbaren Dissens in begrenzten Bereichen offen als demokratische Normalität deklarieren und einen unnötigen Kurzschluss zwischen Uneinigkeit, Koalitionsbruch und Regierungssturz vermeiden. Wo eine Einigung innerhalb der Regierung nicht möglich ist, könnten es sich die Koalitionspartner freistellen, alternative Mehrheiten mit Oppositionsparteien zu bilden.

Seit Langem praktizieren dänische Minderheitsregierungen erfolgreich solche wechselnden Mehrheiten. Sie könnten auch für die deutsche Fixierung auf Mehrheitskoalitionen adaptiert werden, solange hierzulande Minderheitsregierungen zu Unrecht als verpönt gelten. Parlamentsmehrheiten, die eben nicht in jeder Frage mit der Regierungsmehrheit identisch sind, wären dann in der Lage, ihren legitimen Gestaltungsanspruch zu verwirklichen. Diese Flexibilität würde es beispielsweise den Grünen in Baden-Württemberg ermöglichen, gemeinsam mit der SPD- und der FDP-Opposition mehrheitlich das kommunale Wahlrecht für Ausländer einzuführen - gegen ihren voraussichtlichen Juniorpartner von der CDU. In Rheinland-Pfalz stünden der SPD für den Bau einer von den grünen Kabinettskollegen abgelehnten Rheinbrücke die CDU-Opposition (und die FDP) zur Verfügung.

Dass sich Regierungsparteien künftig von ihren Koalitionspartnern mit der Opposition überstimmen lassen, mag für deutsche Ohren ungewohnt klingen. Mit den gelegentlichen Abstimmungsniederlagen käme aber auch ein großer Gewinn für die Parteien und ihre Wähler: Die Oppositionsparteien und ihre Anhänger blieben nicht mehr für die Dauer einer Wahlperiode bei der Gesetzgebung weitgehend außen vor; die Koalitionspartner wären nicht länger zu jedem Kompromiss verdammt und könnten an wichtigen Kernpositionen festhalten. Diese Positionen ließen sich dann auch einmal unverwässert gegen den Koalitionspartner durchsetzen, oder sie könnten den eigenen Wählern prinzipienfest als unverwechselbares politisches Alternativangebot präsentiert werden, wenn sich dafür eben keine Mehrheit findet.

Überhaupt steht es keiner demokratischen Partei schlecht zu Gesicht, sich einer Parlamentsmehrheit zu beugen, hinter der oft auch eine Mehrheit der Bevölkerung steht. Auch die Wähler dürften mehr Gefallen daran finden, wenn durch offenere politische Beziehungen häufiger verschiedene parlamentarische Mehrheiten miteinander um die beste Lösung streiten und dabei politische Inhalte deutlicher neben koalitionspolitischer Taktik hervortreten.

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