Kolumne:Versunken

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Der Untergang der Titanic dauerte zwei Stunden und 40 Minuten, er ist nahezu perfekt dokumentiert. Anders als die Schiffsunglücke dieser Tage.

Von Carolin Emcke

Die Geschichte ist bekannt. Die Geschichte jener Jungfernfahrt am 14. April 1912, als das damals größte Passagierschiff der Welt, die RMS Titanic, auf seiner Reise von Southhampton über Cherbourg und Queenstown nach New York, mit einem Eisberg kollidierte und sank. Dieses Schiffsunglück ist so überformt mit fiktionalen Erzählungen, das innere Bildarchiv ist so überfrachtet mit Szenen aus Blockbuster-Filmen, dass die erste Einstellung der neuen Animation, die den Untergang der Titanic in Echtzeit nacherzählt, so verfremdet wie vertraut daherkommt: Es ist dunkle Nacht, die Sterne leuchten am Himmel über den hoch aufragenden vier Schornsteinen des Schiffes, das durch die flache See rauscht. Kein Mensch, nirgends. Alles wirkt friedlich. Nur das Geräusch der Schrauben und der Kolbendampfmaschinen ist zu hören und plätscherndes Wasser. Sonst nichts.

Kein heldenhaftes Actionkino. Stattdessen pures, bildarmes Scheitern

Nach zwölf Sekunden brüllt eine Männerstimme eine Warnung in die Nacht: Die Crew hat einen Eisberg gesichtet. Eine Einblendung informiert: Es ist 23.39 Uhr in der erzählten Zeit. Eine Klingel ist zu hören. Ein kurzes Gespräch zur Bestätigung. Dann folgt die Anweisung, die Maschinen zu stoppen. Am rechten Bildrand der Animation taucht nun die dunkle Kontur eines Eisbergs auf. Das Schiff gleitet weiter. Um 23.40 Uhr rammt die Titanic mit ihrer Steuerbordseite den Eisberg. Ein metallenes Scheppern ist zu hören, ein leises Knistern, während die Schiffswand an dem Eisberg entlangzieht. Keine verzweifelten Gesichter auf dem Kommandodeck sind hier zu sehen, keine Panik im Maschinenraum, auch keine ahnungslos-fröhlichen Gäste, die essen oder tanzen. Es gibt nur das Schiff und die gespenstische Geräuschkulisse.

Was folgt auf die Kollision ist . . . nichts. Fünf lange Minuten ist nur das simulierte Schiff im simulierten Nordatlantik in simulierter Nacht zu sehen. Sonst nichts. Die Kameraperspektive wandert langsam um den Koloss herum, die Backbordseite entlang, begleitet von einem Basso continuo aus Wind- und Wassergeräuschen. Um 23.45 Uhr schließlich kommt das Schiff zum Halt, damit der Schaden untersucht werden kann. Noch immer hat niemand einen Notruf gesendet. Noch immer hat niemand die Passagiere informiert. Zwei Minuten später ordert der Kapitän an, mit halber Kraft voraus zu fahren. Im Bild verändert sich wenig, nur das Geräusch der Maschinen setzt stockend dröhnend wieder ein.

Das ist spektakulär. Und spektakulär quälend. Nicht, weil es so ungewohnt entschleunigt ist. Nicht, weil sich in das optische Vakuum hinein ältere, hysterischere Filmbilder imaginieren lassen. Sondern weil die ästhetische Langsamkeit mit der realen Tatenlosigkeit korrespondiert. Jede Sekunde, die hier verstreicht, hätte genutzt werden können. Jeder Augenblick, in dem nichts geschieht, so wissen die nachgeborenen Betrachterinnen und Betrachter, trägt letztlich zum Tod von Menschen bei. Die Echtzeit, in der sich die Ereignisse hier abspielen (oder eben nicht abspielen), nimmt dem Zuschauen das unschuldig-unterhaltsame Moment. Keine ablenkenden Liebesszenen, kein heldenhaftes Actionkino. Stattdessen pures, bildarmes Scheitern. Um 23.49 Uhr, so wird nun eingeblendet, sind bereits 3, 785 Millionen Liter Wasser in das Schiff eingedrungen. Es dauert noch bis 0.25 Uhr, bis die ersten Notrufe von der Titanic ausgesandt werden. Um 0.40 Uhr, das Video läuft nun schon eine Stunde, wird das erste Rettungsboot mit einer Kapazität von 65 Plätzen zu Wasser gelassen. Es hat 28 Menschen an Bord. Als das Schiff schon vollgelaufen und fast ganz abgesunken ist, hört man das Knacken des Stahls, dann bricht einer der vier Schornsteine und fällt um wie eine Schachfigur. Als sich das Schiff senkt und fast senkrecht im Meer steht, sind noch 1500 Menschen an Bord. Nach zwei Stunden und vierzig Minuten ist alles vorbei. Die Titanic ist untergangen.

Das alles ist über 100 Jahre her. Es geschah zu einer Zeit, als es noch keine Satellitenüberwachung gab, kein Twitter oder Facebook, keine digitalen Archive - und doch: Was wissen wir nicht alles über diese Katastrophe. Wir kennen nicht nur die Maße des Schiffes (269, 04 m x 28, 19 m), wir wissen nicht nur, dass es durch Vierzylinder-Kolbendampfmaschinen mit Dreifachexpansion angetrieben wurde, sondern auch, dass die Küche mit 19 Backöfen ausgestattet war. Wir wissen nicht nur, wie viele Menschen an Bord waren (2220) und wie viele gestorben sind (1514), sondern auch, wer zu diesen Gästen zählte: der Schriftsteller Archibald Grace, der Multimillionär John Jacob Astor, der Geschäftsmann Benjamin Guggenheim, die Schauspielerin Dorothy Gibson, der Inhaber des Kaufhauses Macy's, Isidor Strauss, und seine Frau Ida. Das war nur die erste Klasse. In der zweiten Klasse befand sich die Missionarin Annie Clemmer Funk. Wir wissen, wie viele Kilogramm Tee (440 kg) und Kaffee (1100 kg) die Titanic mitführte und wie viele Tonnen Fleisch und Fisch (72,5 t). Und schließlich wissen wir, wo sie versank (etwa 300 Seemeilen südöstlich von Neufundland).

Vergangene Woche, fast am selben Tag, an dem die Computerspiel-Entwickler das Video über den Untergang der Titanic in zwei Stunden 40 Minuten Echtzeit ins Netz stellten, ist im Mittelmeer ein Schiff versunken. Vermutlich. Weder die griechische noch die italienische Küstenwache waren in der Lage, den Schiffbruch zu bestätigen. Die Meldungen über Hunderte tote Geflüchtete wurden deshalb tagelang im Konjunktiv formuliert. Die Opfer gab es erst einmal nur als Möglichkeitsform. Am Mittwoch dann bestätigte der UNHCR, dass auf dem Weg von Libyen nach Malta ein Boot mit bis zu 500 Menschen an Bord gekentert sei. Es handelt sich um die größte Flüchtlingstragödie der letzten zwölf Monate. Die Namen der Toten sind nicht bekannt. Wie viel Tee oder Kaffee sie mitführten auf ihrer Flucht, nach Europa auch nicht. Niemand weiß, wie lang und breit das überfüllte Schiff gewesen ist oder welche Geräusche zu hören waren, als es versank. Nur dass niemand kam, um die Menschen vor dem Ertrinken zu retten, das ist gewiss.

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