Die Grünen, 25 Jahre danach:Der Widerspenstigen Zähmung

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Wie aus Spontis Profis wurden: Als Exoten schreckten sie einst das Parlament, ihre Erben machen als Experten nun pragmatisch Politik und hadern mit den etablierten Alt-Revoluzzern.

Constanze von Bullion

Es liegt eine kleine Ewigkeit zwischen diesen Gestalten, zumindest was das Äußere angeht. Der Ältere trägt die Haare noch wie damals, sie sind jetzt weiß und fallen ihm bis auf die Hüfte. Der Jüngere ist fein zurechtgestutzt und kommt im Anzug mit weißem Hemd daher.

Die Grünen kamen am 29. März 1983 in den Bundestag. (Foto: Foto: AP)

Der Alte redet langsam, dreht sich zwischendurch Zigaretten, und nach sechs Stunden Gespräch beschleicht ihn das Gefühl, noch nicht auf den Punkt gekommen zu sein. Der Junge hat wenig Zeit, und als sie um ist, rennt er los, als sei der Teufel hinter ihm her.

Dieter Drabiniok und Gerhard Schick, das sind zwei wie Großvater und Enkel, jedenfalls vom Tempo her. Drabiniok ist 54 Jahre alt und Maurer, vor einem Vierteljahrhundert ist er mit den ersten Grünen in den Bundestag eingezogen. Schick ist 35, promovierter Volkswirt und sitzt heute als grüner Finanzexperte im Parlament.

Fragt man den einen, was er will, spricht er von der Rettung des Planeten. Fragt man den anderen, was er glaubt, spricht er vom lieben Gott. Einig sind sie eigentlich nur darin, dass sich in 25 Jahren einiges verändern kann. Oder muss.

"Auch uns Grünen tut ein Personalwechsel gut", sagt Gerhard Schick.

"Die Richtung ist die falsche", sagt Dieter Drabiniok.

Es ist ein stürmischer Märztag in Saarbrücken, und durch die Altstadt rollt ein kleines rotes Auto. Plötzlich bleibt es stehen, geht aus, der Fahrer reagiert nicht. Er dreht nur am Zündschlüssel, das Auto ruckelt weiter. An der nächsten Ecke geht es wieder aus.

Der Regen. Der Zündschlüssel. Das Auto ruckelt weiter. Dieter Drabiniok hat Zeit, und er ist gegen neue Autos, weil die alten ja weiter gefahren werden und zusammen mit den teuren Neuwagen dann die Luft verpesten.

Drabiniok ist ein Mensch, der so seine Überzeugungen hat, ein stiller Typ mit einem Bart und einer Mähne, die alle Zeitenwechsel übersteht. Sie ist eine Art Treuesiegel, und jetzt begleitet es ihn in sein Lieblingscafé. Dort sitzen Menschen seines Alters, die grüßen ihn und irgendwann kommt einer und legt ihm ein kleines Buch auf den Tisch. Es heißt "Absteiger" und handelt davon, dass es kein Unglück sein muss, wenn einer nicht mehr der ist, der er mal war.

Petra Kellys Gelöbnis

Dieter Drabiniok war mal Bundestagsabgeordneter, das ist eine kleine Ewigkeit her, und sie beginnt am 29. März 1983. Damals zieht ein sonderbarer Trupp durch Bonn, es sind Frauen in klobigen Schuhen und Männer in Rübezahl-Montur. Sie tragen eine tote Fichte und Blumen, und eine gewisse Petra Kelly spricht ein Gelöbnis, dass sie den Frieden und die Ideale niemals verraten wird.

Dann sind sie drin, 28 Grüne im Deutschen Bundestag, es ist das erste Mal, und es ist ein Kulturschock. Für die westdeutsche Nachkriegsrepublik, deren ungezogene Kinder jetzt auch im Parlament angekommen sind. Für die Herren Strauß und Kohl und die paar Damen, die feixen über diesen ungehobelten Haufen. Moralisten, bockige Christen und Radikale nehmen da Platz, feministische Wetterhexen, Peaceniks und jede Menge Egomanen.

Ganz vorn setzt Petra Kelly sich hin, daneben Marieluise Beck, eine junge Lehrerin, die innerlich kämpft, auch mit ihrem Respekt vor Autoritäten. Dahinter die, die ganz nach vorn wollen, Joschka Fischer und Otto Schily. In Reihe drei dann wilde Bärte und Matten: Gert Jannsen, Geologieprofessor, und Dieter Drabiniok, Maurer.

Das Foto von den beiden, die mit gefalteten Händen in den Sitzen klemmen wie in der Kirchenbank, gehört zu den historischen Kalenderblättern einer Nation. Es steht für den Abschied von einer Spießbürgerrepublik, die nun auch an ihrer Spitze entrümpelt werden soll. Wer das Bild allerdings etwas genauer anschaut, kann sehen, dass die, die da den Bürgerschreck spielen, selbst ein bisschen erschrocken wirken.

Dieter Drabiniok hält damals die Luft an und gruselt sich. "Ich hab' mich deplatziert gefühlt", erzählt er. Es ist nicht die Ehrfurcht vor den Krawatten, eher die vor dem Hohen Haus, das im Fernsehen irgendwie kleiner gewirkt hat. Er will sich nicht blamieren, auch nicht vor den eigenen Leuten. "Ich hatte ja nicht den Hintergrund."

Drabiniok kommt aus Bottrop mitten im Ruhrpott, wo die Schlote noch rauchen, als er groß wird. Seine Eltern sind Sozis, der Vater fährt Überschicht in der Kokerei, und als das Geld für vier Kinder nicht reicht, schafft auch die Mutter im Akkord.

Über Politik wird nicht gestritten in der Familie und auch nicht über den letzten Krieg, aber über die Haare von Sohn Dieter und über seine Noten. "Ich war 'ne ziemlich faule Sau." Er schmeißt die Verkäuferlehre, lernt lieber Maurer, aber auch da gibt es Krach, "nach der Prüfung hab' ich direkt meine Kündigung eingereicht". Er passt nicht ins Leben seiner Eltern, ein anderes aber kennt er nicht.

Als Dieter Drabiniok zwanzig ist, mauert er im Akkord und verdient gutes Geld, er trägt zur modischen Dauerwelle eine Rolex, kauft sich einen BMW, rast mit 160 PS durch die Stadt und geht mit seiner Frau so oft einkaufen, dass er das Zeug oft gar nicht mehr auspackt. "Ruhrgebietsschickeria", sagt er und lacht. "Wir waren richtiges Konsumentenvieh." Ein Mann wie sein Land, wenn man so will.

Es ist nicht ganz klar, wie aus diesem Goldkettchenträger ein Grüner wird, Gammler heißt das damals. Er selbst erlebt das wie eine Art Erleuchtung, die ihm seine "Verantwortung für diesen Planeten" zeigt. Er liest was vom Club of Rome und den Grenzen des Wachstums.

Er hört von toten Bäumen, versteht vieles nicht, fragt in der Stadtbücherei. Die Empörung über den Hunger in der Welt treibt ihn auf die Straße, er hängt sich Schilder um und marschiert durch Bottrop. Seine Frau droht jetzt mit Scheidung, der Vater mit dem Nervenarzt.

Man muss sich den Weg in den Bundestag als ziemlich einsame Reise vorstellen. Unterwegs wird Dieter Drabiniok einer der Mitbegründer der Bundes-Grünen, tritt bei der Kandidatur für den Bundestag gegen den Künstler Joseph Beuys an, zitiert in seiner Rede aus einer Schülerzeitung und wird gewählt. Als Otto Schily ihm gratuliert, knurrt er: "Ich hätte lieber dich verhindert." Dann sitzt er im Bundestag, als Verkehrsexperte, das will keiner machen bei den Grünen.

Ein Treibhaus voller Staub

Dieter Drabiniok macht sich jetzt viele Gedanken. Er ist überzeugt, dass Geld den Menschen verdirbt, also spendet er einen guten Teil seiner Diäten. Er kämpft mit einer Papierlawine, die auf ihn niedergeht, es sind Briefe von Bürgerinitiativen aus dem ganzen Land.

Er formuliert. "Der Bundestag möge beschließen, den Bleizusatz im Benzin zu verbieten." Er schreibt mit der Hand, Computer gibt es nicht, und als es welche gibt, ist er dagegen. Jeder Antrag wird also abgetippt, ausgeschnitten, geklebt, kopiert bevor er das Gesamtkunstwerk in den Verkehrsausschuss trägt.

Drabiniok arbeitet bis zur Erschöpfung, es macht "Spaß wie die Sau", sagt er, aber man lächelt ihn nur milde an und lehnt ihm jedes einzelne Papier ab. Einmal will er 200 Anträge gegen den Ausbau von Autobahnen begründen. Hinterher sitzt er im Büro und heult.

An die Schrecken der Stunde null erinnern sich auch Grüne, die heute noch im Bundestag sitzen. Marieluise Beck kommt damals vom Rand des Schwarzwalds in die Fraktion, hört Türen knallen, vergießt Tränen, leidet manchmal wie ein Hund und erlebt, wie Parteifreunde einander niedermachen.

"Das war der reine Irrwitz", sagt sie und meint den Glauben, dass sich alle wohlfühlen, wenn es keine Hierarchien gibt und keine sicheren Positionen.

Jeder grüne Abgeordnete hat damals einen Nachrücker, der zwei Jahre in seinem Büro arbeitet, bevor er ins Plenum rotiert. Der Konkurrent sitzt also jedem von Anfang an im Nacken, erzählt Lukas Beckmann, der bis 1984 Bundesgeschäftsführer ist und sich statt ewiger Lehrlinge im Politikbetrieb kompetente Fachleute wünscht.

Professionalisierung aber ist das Ende der Basisdemokratie, fürchten viele und stürzen sich in Grabenkämpfe, die jeder Beschreibung spotten.

Wie viel die grünen Gründer bewegen, merken sie oft erst viele Jahre später. Als die Ersten aus dem Bundestag rotiert werden, hat die Entrümpelung der Republik schon begonnen, und die Anliegen, die sie aus abgelegenen Biotopen in den Bundestag getragen haben, schlagen Wurzeln mitten in der Gesellschaft.

Umwelt, Gleichberechtigung, Menschenrechte, das sind inzwischen Themen des Mainstream. Das grüne Treibhaus allerdings wirkt heute, als müsste es selbst entstaubt werden. Fragt sich nur, von wem.

Der Abgeordnete Dr. Gerhard Schick ist einer, den noch nicht jeder kennt, aber jederzeit kennenlernen kann. Im Internet sieht man ihn, wie er auf dem Fahrrad durchs Brandenburger Tor saust, mit fliegendem Sakko am Verkehr vorbei zieht und zum Bundestag flitzt.

Der Spot kommt mit Werbemusik daher, bis es Klick macht und ein sehr erwachsener junger Mann die Herausforderungen nachhaltigen Wirtschaftens erläutert.

Wer Gerhard Schick dann suchen geht, trifft einen anderen, sympathischeren Zeitgenossen. Er sitzt in Raum 2650 des Jakob-Kaiser-Hauses in Berlin, da hat er sich ein bisschen Grün ans Bürofenster gestellt, und wenn er den Blick vom Schreibtisch hebt, schaut er seinem Schöpfer ins Gesicht.

Es ist ein stilles, nach innen gewandtes Gesicht und ein Ausschnitt aus einem Kruzifix. In den wenigen ruhigen Momenten, die er so hat, hilft es, die Konzentration auf das Wesentliche zu lenken, sagt er.

Das Wesentliche im politischen Leben des Gerhard Schick ist Geld und die Frage, wie man es verteilt. Schick ist finanzpolitischer Sprecher der Grünen und einer, der Gerechtigkeit mit Nachhaltigkeit verbinden will. Also wirbt er für die ökologische Ausrichtung der Finanzmärkte, für transparente Strukturen bei Banken, für mehr Verbraucherschutz bei der Altersvorsorge und dafür, dass die Leute ihr "sauer verdientes Geld", wie er das nennt, nicht in nutzlosen Versicherungen und teuren Depots verheizen.

Fragt man ihn, was ihn von seinen grünen Urahnen trennt, sagt er: "Ich denke nicht so in Feindbildern." Kapitalismus - das Wort benutzt er nicht, eher redet er von Kapitalerträgen, die "anständig" zu besteuern sind. Bei den Grünen, denen fast alle bekannten Wirtschaftspolitiker weggelaufen sind und wo sich einer wie Oswald Metzger gerade der CDU angedient hat, gilt Schick als Nachwuchshoffnung der Linken.

Er selbst sieht das ein bisschen anders, zumindest was das Linkssein angeht. Er hat ein Konzept für ein Grundeinkommen entwickelt, fordert mehr Geld für Arbeitslose, da ist er ein Linker, weniger Bürokratie, da ist er nah an der FDP, mehr Anreiz zur Eigeninitiative, da steht er im grünen Herzland.

Fein differenzierte Botschaften sind das, und wenn Schick sie vorträgt, setzt er vorsichtig Wort an Wort. Der Blick verliert sich manchmal in der Ferne, und vor seinem inneren Auge scheint noch ein anderer Film zu laufen. Er handelt davon, was sein Gegenüber denkt und was das dann bewirken könnte.

Schick weiß, wie die Hebel der Politik funktionieren, er ist da früh ein Profi geworden. Und einer, dem sein flinker Geist manchmal fast davonzulaufen scheint.

Lesen Sie auf Seite zwei, warum bei den Grünen jetzt ein Generationenwechsel ansteht.

Wie ist es eigentlich so, wenn man in der Schule nur tolle Noten hat und einen Abiturschnitt von 1,0? Na ja, sagt er und zögert, "das mag ich nicht so". Er meint das Bild vom Musterknaben, der neben der Schule noch Orgel spielt, mit Freunden a cappella singt, sich mit seinen Eltern versteht, die Lehrer sind und kritische Christen und keine, gegen die er hat aufbegehren wollen.

Dieter Drabiniok heute. (Foto: Foto: ddp)

Sie haben ihm Selbstbewusstsein mitgegeben - und einen Blick für die, die weniger privilegiert aufgewachsen sind. "Ich bin nicht gewohnt, darüber zu reden", sagt Gerhard Schick irgendwann, "aber ich habe die bessere Ausstattung mit Ressourcen und persönlichen Fähigkeiten immer auch als Verantwortung empfunden."

Er will sich nützlich machen und nach oben, geht mit 24 zu den Grünen, mit 29 zur Stiftung Marktwirtschaft, mit 31 promoviert er, und mit 33 sitzt er im Bundestag, wo ihm die Altvorderen jetzt leise auf die Nerven zu gehen scheinen.

Wer Schick nach dem grünen Generationswechsel fragt, der jetzt ansteht, hört Gebrummel, dann Sätze, die nicht in die Zeitung dürfen, schließlich ein Loblied auf die Alten. "Es gibt viele gute Gründe für uns Junge, auf die Leistungen der Gründergeneration stolz zu sein."

Es sind nicht die Bärte der Stunde Null, an denen seine Altersgruppe sich reibt, sondern die Ex-Regierungsgrünen und ihr Stolz, jetzt auch Krawatte binden zu können. Da kann die Generation Schick nur müde lächeln.

Zu bescheiden, zu brav, vor allem zu still, das sagen die Jungen über ihre Alten, und in einem Papier haben sie beklagt, dass Kontroversen abgewürgt werden, weil die Gruppe 50 plus in der Fraktion sie als Angriff auf ihre Lebensleistung versteht. Hartz IV, die Riester-Rente, die Homo-Ehe, die Außenpolitik, das waren alles rot-grüne Erfolge, an denen die Oldies nicht kratzen wollen. Es geht also um Besitzstandswahrung - und darum, dass eine neue Generation ran will.

Mit fünf Fischen und Hartz IV

Der Aufstand gegen die Senioren ist jetzt abgeblasen worden. Seit bekannt ist, das Reinhard Bütikofer seinen Platz für Jüngere räumt, ist der Nachwuchs weggetaucht. Es hat sich bisher kein junger Realo gefunden, der mit der linken Parteichefin Claudia Roth die Grünen anführen will.

Wenn es weiter Absagen hagelt, könnte der Spieß sich bald umdrehen. Dann muss womöglich ein linker Mann als Parteichef her und dazu eine weibliche Reala. Claudia Roth wäre dann raus und Gerhard Schick im Spiel, jedenfalls theoretisch.

Er macht jetzt eine finstere Miene, schüttelt den Kopf, er sagt dazu nichts mehr. Es tobt jetzt ein Machtkampf hinter den Kulissen, in dem man sich besser nicht instrumentalisieren lässt. Von einem Aufstand gegen Claudia Roth glauben manche zu wissen, und dafür taugt Schick wohl nicht. Roth war eine der wenigen Heteras, die sich für die Rechte von Schwulen und Lesben eingesetzt hat, als das niemand sonst getan hat.

"Das habe ich nicht vergessen", sagt Schick, der sich mit einem Franzosen verpartnert hat. Er steht auf, packt eine Mappe, er muss jetzt los, wetzt den Flur entlang, Treppen runter, über ein unterirdisches Laufband, Treppen hoch, bis der Bauch des Bundestag ihn verschluckt.

Dieter Drabiniok, der Mann in Saarbrücken, ist jetzt 23 Jahre raus aus dem politischen Getriebe. Er hat es nicht bedauert, dass man ihn 1985 aus dem Bundestag rotiert hat. Damals gründet er noch den VCD, einen alternativen Verkehrsklub, dann ist Schluss mit der Rettung des Planeten.

Die Grünen, sagt er, "kommen doch nur noch geduckt voran". Er lebt jetzt mit fünf Fischen und Hartz IV in einer kleinen Wohnung, ohne seine Familie, der Maurerbetrieb ist ihm pleitegegangen. Manchmal kann es sehr still werden in seiner Welt, dann hört man nur noch das Aquarium gluckern. Dieter Drabiniok sagt, das stört ihn nicht. Und dass er ein zufriedener Mensch geworden ist.

© SZ vom 27.3.2008/gdo - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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