Theater:Störenfried mit Gruselkompetenz

Ersan Mondtag

Ersan Mondtag.

(Foto: Conny Mirbach)

Der junge Regisseur Ersan Mondtag weiß, was Angst ist und Angst macht. Mit seiner Inszenierung "Tyrannis" ist er jetzt zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Ein Porträt.

Von Till Briegleb

Das Theater macht sich seine jungen Regisseurinnen und Regisseure gerne genehm. Wer um die dreißig ist und Eingang in die Inszenierungsrotation finden will, hat deshalb zwei Möglichkeiten. Entweder man legt sich einen Stil zu, dessen Verlässlichkeit einen für Intendanten attraktiv macht. Oder eine kurze Experimentierphase endet in großem Anpassungswillen. Das erzeugt dann eine Gruppe Allerweltsregisseure, die den Spielplan mit Projekten füllen, mit denen man nichts falsch machen kann. Echte Störenfriede, die weder Marke noch Masse sein wollen, findet man unter den Aufstrebenden eher selten.

Umso erfreulicher ist ein Fall von Systemrenitenz, wie Ersan Mondtag einer ist. "Der Anspruch der Theater an junge Regisseure, sie müssten schon sehr viel über Form wissen, ist völlig absurd", sagt der 28-Jährige. Und deshalb probiert sich dieser vor Selbstbewusstsein sprühende Schnellsprecher in seinem Formwollen so unterschiedlich aus, dass man ihn auf keinen Fall mit sich selbst verwechseln kann. Allein seine letzten drei Stücke in Kassel, Hamburg und Frankfurt wirken stilistisch wie sehr entfernte Verwandte.

Die jüngste Produktion, eine Adaption von Oskar Roehlers Film "Der alte Affe Angst" am Schauspiel Frankfurt, handelt von leidenschaftlichen Gefühlen, spielt aber in einer klinischen Atmosphäre mit Marmorfußboden und spiegelnder Tempelruine. Mondtag folgt in seiner Lesart der eskalierenden Beziehungsprobleme zwischen einem Theaterregisseur (Max Mayer) und einer Kinderärztin (Linda Pöppel) weniger der Roehlerschen Exzess-Dramatik als einer Dreieckskonstellation mit dem sterbenden Vater (Kate Strong), in der es um die Präsenz des Todes geht. Ergänzt um einen Chor alter Menschen, denen ihr Blutsystem auf den Körper gemalt ist, und musikalisch gefasst von eindrücklichen Arien über den Verlust aller Utopien und die Herrschaft der Angst (von Diana Syrse) zeigt Mondtag emotionale Zustände wie in einem Versuchslabor. Pöppel, Strong und Mayer konfrontieren sich gegenseitig mit verschiedenen Gefühlsausdrücken, mal ironisch, mal absurd, dann authentisch, schließlich auch pathetisch bis manieriert. Damit betrachtet Mondtag emotionale Extremsituationen erstaunlich abgeklärt als Konflikte, die vielfältige Reaktionen erlauben, über deren Rechtmäßigkeit schwer zu urteilen ist.

Zu seinem Zeichensystem gehören Filme von Fassbinder, Wes Anderson und David Lynch

Seine Adaption von Orhan Pamuks "Schnee" am Hamburger Thalia Theater hat Mondtag dagegen als einen gemischtgeschlechtlichen Chor aus Menschen mit hochtoupiertem Blondhaar und schwarzen Abendkleidern inszeniert, der streng choreografisch geführt von der Stadt der Selbstmordmädchen erzählt. Und seine bisher komplexeste Arbeit, das selbstentwickelte Projekt "Tyrannis" am Staatstheater Kassel, ist wiederum ein stummes Spektakel rätselhafter Gestalten von zombiehafter Langsamkeit, das mit der Liebe zum Unheimlichen spielt und Fragen des Andersseins als Familienhorror ausmalt.

Was dieses Projekt, das gerade beim Festival "Radikal jung" am Münchner Volkstheater zu sehen war und Anfang Mai zum Berliner Theatertreffen eingeladen ist, erst möglich machte, ist die darin spürbare Kulturbegeisterung. Ersan Mondtag kann sich wohl deswegen so unbekümmert guten Intendantenratschlägen verweigern, weil er sich seit der Schulzeit mit Eindrücken vollgesogen hat, die jetzt ausgeschwitzt werden wollen. Freie Formsuche setzt auch in jungen Jahren große Formkenntnis voraus. Die hat sich Ersan Mondtag hart erarbeitet.

Geboren wurde Ersan Mondtag 1987 in Berlin. Als Sohn einer liberalen türkischen Familie durfte er schon als Kind Horrorfilme wie "Nightmare on Elmstreet" sehen, kam ansonsten aber mit Kultur kaum in Berührung. Während eines Schüleraustauschjahres in Washington entschied er sich, Kunst verstehen zu wollen. Also graste er die Museen ab und betrachtete stundenlang Kunstwerke, eine Angewohntheit, die er, zurück in Europa, beibehielt. Klassische Musik ergründete er ebenso sportlich ausdauernd wie die Filme von Fassbinder, Almodóvar, Wes Anderson oder David Lynch. Und als er mit der Regiearbeit begann, gab Ersan Aygün, wie er eigentlich heißt, sich einen Kunstnamen: "Ay" bedeutet im Türkischen "Mond", "Gün" der "Tag" - ergibt "Mondtag".

Dieser riesige Zeichenkosmos ist seither Basis für Mondtags Regiekonzepte. So ist die von ihm selbst entwickelte Bühne von "Tyrannis" - ein einsames Haus in einem Birkenwald - komponiert aus Zitaten, die auf diese intensive Beschäftigung mit Museen, Kinos und Klassiksendern verweisen: Filme und Serien wie "Twin Peaks", "Shining", "Blair Witch Project" und "Paranormal Activity" bestimmen hier ebenso die gruselige (Video-)Bildwelt wie Referenzen auf den Fotokünstler Gregory Crewdson, auf Lucian Freud oder Francis Bacon.

Fassbinders frühe Psycho-Szenen finden in den stummen Ritualen dieser rothaarigen Kleinfamilie ihr Echo, aber auch neutönerische Musik und der Ruf eines Muezzin fördern die Merkwürdigkeiten. Schließlich erkennt man unschwer Verweise auf Mondtags Lehrzeiten bei Christoph Marthaler und dem grotesken Theater eines Vegard Vinge - bei dessen Truppe im Prater der Berliner Volksbühne Mondtag ein hochintensives Jahr verbrachte, bevor er ein Regiestudium an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule ausprobierte und abbrach. Zu viel Konformitätsdruck herrschte ihm dort.

Mondtag provozierte lieber mit seiner eigenen Gruppe Kapitæl 2 Kolektif - indem sie sich etwa verkleidet als Burkafrauen auf dem Oktoberfest an den Schießstand stellten. Oder er stellte sich Fragen nach Relevanz im Theater, die sein Kollektiv dann in einer "Sinfonie" mit viel Blut, Nacktheit, Schlachthoffilmen und Sufitänzen zu umkreisen versuchte. Und er drehte bereits 2014 einen sehr bösen Spottfilm über Erdoğan, in dem dieser sich als geiler Gewaltdespot mit Blasenkopf über Zeitungsartikel aufregt. Schließlich holte ihn Oliver Reese ans Schauspiel Frankfurt, wo ihm eine Adaption von Kafkas "Schloss" mit großen Puppenwesen, denen das Fortpflanzungsorgan aus der Hose hing, einige Aufmerksamkeit brachte - obwohl er selbst die Inszenierung eher fürchterlich fand.

In diesen vielfältigen künstlerischen Setzungen gemeinsame Bildmotive zu finden fällt weit schwerer, als die Hintergrundthemen zu entdecken, mit denen sich Mondtag immer wieder befasst. Angst spielt da eine große Rolle, sowohl in ihren Spielarten des Unheimlichen und des Grusels, als auch in ihren konkreten Formen wie der Angst vor den/dem Fremden. Das Konjunkturthema der europäischen Staaten findet sich symbolisch verschlüsselt in verschiedenen seiner Projekte wieder.

Mondtag, der sich selbst einen "hochpolitischen Menschen" nennt, traut aber nur der Kunst. Deswegen vermeidet er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen das Explizite und Moralische. Er sucht Reibung im Symbolischen, im Vieldeutigen, im Aufgeladenen. Und das gilt auch für sein zweites Grundthema, das Verhältnis von Individuum und Kollektiv. In diversen Arbeiten begegnet das Einzelwesen der Norm in Gestalt eines uniformen Chors und muss gegen die Ohnmacht kämpfen, die diese Übermacht ihm suggeriert.

"Angst erzieht den Mensch zur herme- tischen Gemeinschaft", sagt Mondtag, "und dieser Zusammenhang ist ein repressiver." Auch im Theater herrschen solche autoritären Strukturen. Vielleicht ist Ersan Mondtag deshalb so trotzig in seinem Beharren, selbstbestimmt zu bleiben. "Künstler ist ein Schimpfwort am Theater", sagt Mondtag. Genau deswegen hat er vor, einer zu bleiben. Ein Künstler und ein Störenfried.

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