Kartografie:Von Grenzen und Brücken

Landkarten können mehr über Geschichte und Politik, über Trennendes und Verbindendes erzählen als manch dicker Wälzer. Doch die Erklärungen müssen stichhaltig sein. Ein Überblick.

Von Werner Hornung

Die kartografische Verblödung nimmt zu, das geografische Wissen schwindet. Großformatige Orientierungshilfen wie der "Diercke Weltatlas" mit seiner Vielzahl und Vielfalt an Karten werden kaum mehr aufgeblättert. Der Blick fällt eher aufs kleinformatige Smartphone-Display zu den Google Maps oder man begnügt sich mit dem schmalspurigen Tunnelblick des Navigationsgerätes. Dabei sind doch Atlanten eine wunderbare Lektüre. Unsere Neugierde kann Seite für Seite ausufern, kann unkontrolliert Grenzen überschreiten. Der Fantasie sind keine Schranken gesetzt, trotzdem wird sie nicht bodenlos, dafür sorgen topografische, thematische und politische Karten. Vierundvierzig solcher Kartenausschnitte finden sich nun zusammen mit informativen Texten in einem lesenswerten und zugleich schönem Buch, das der Schweizer Journalist David Signer herausgegeben hat: "Grenzen erzählen Geschichten. Was Landkarten offenbaren".

Es sind geopolitische Kurzgeschichten, verfasst von 16 Redakteuren und Auslandskorrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung. Ihr vorgegebenes Thema war stets gleich, aber ihre teils kuriosen Storys aus allen Ecken der Welt fallen höchst unterschiedlich aus, weil die Zustände vor Ort und entlang der Grenzen so verschieden sind. Zum Beispiel sieht es seit 1953 geradezu martialisch an der streng bewachten Waffenstillstandslinie zwischen Nord- und Südkorea aus. Ganz friedlich und zudem weniger bekannt ist dagegen der genaue Grenzverlauf zwischen Italien und der Vatikanstadt, der teilweise über den Petersplatz und dann mitten durch die Audienzhalle des Papstes führt.

Kartografie: Ihre Sicht der Welt: Besucher in der Stadt Chongqing spazieren über eine Weltkarte, dunkel eingefärbt China.

Ihre Sicht der Welt: Besucher in der Stadt Chongqing spazieren über eine Weltkarte, dunkel eingefärbt China.

(Foto: AFP)

Natürlich erfährt der Leser nicht bloß Zahlen, Daten und Fakten, es wird auch die momentane Situation geschildert und dazu der historische Hintergrund geliefert. Schließlich will der Leser ja wissen, wie etwa der im Nordosten Indiens gelegene Siliguri-Korridor (wegen seiner Form "Hühnerhals" genannt) 1947 durch britische Schludrigkeit zustande kam oder warum 1890 Reichskanzler Caprivi die Grenzen von Deutsch-Südwestafrika mit einem Federstrich erweitern konnte. Ein bisschen weniger Geschichte, dafür einen genaueren Blick auf die Gegenwart wünscht man sich im Beitrag zur spanischen Exklave Ceuta, die an der marokkanischen Mittelmeerküste gegenüber von Gibraltar liegt. Diese Stadt markiert "die Kulturgrenze - oder Kulturbrücke - zwischen der christlichen und der muslimischen Welt"; hier hätte der Autor noch hinzufügen müssen, dass Ceuta heute für viele afrikanische Migranten ein begehrter Zwischenstopp ist, den allerdings ein 24 Kilometer langer, sechs Meter hoher Grenzzaun umgibt.

Die Kartografie bietet Orientierung, prägt aber auch Menschen und ihr Weltbild

Mit Stacheldraht bewehrten Barrieren beschäftigt sich Tim Marshall nicht, das deutet bereits der Titel seines Buches an: "Die Macht der Geographie". Dem englischen Journalisten sind natürliche Grenzen und geografische Besonderheiten wichtiger, weil sie - so seine These - den Rahmen für politisches Handeln abstecken: Meere und ihr Klima, schiffbare Flussläufe, weite Ebenen oder Gebirgszüge wie der Himalaja, die Frieden stiftend zwischen den Großmächten China und Indien liegen. Auf das variantenreiche Zusammenspiel von Geografie und Politik wurde der Autor aufmerksam, als er für den TV-Sender Sky News in zahlreichen Ländern unterwegs war. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus dieser Zeit sind nachzulesen in zehn Kapiteln. Wobei in der deutschen Übersetzung das lobende Vorwort von Sir John Scarlett fehlt, ehemals Chef des britischen Geheimdienstes MI 6.

Mit dem Untertitel "Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt" verspricht Tim Marshall viel; und relativ viel wird uns geboten: eine Fülle an detailreichen Informationen, anschaulichen Impressionen und pointierten Resümees. Zum Beispiel zu Russland: "Vom Großfürstentum Moskau über Peter den Großen bis zu Stalin und heute Putin sah sich jeder russische Führer den gleichen Problemen gegenüber. Es ist egal, ob die Ideologie jener, die die Macht haben, zaristisch, kommunistisch oder nepotistisch ist - die Häfen frieren immer noch zu und die nordeuropäische Tiefebene ist weiterhin flach." Die dazugehörige Doppelseite in diffusem Blaugrau ist allerdings beinah eine kartografische Katastrophe. Einige Länderbezeichnungen sind kaum lesbar und ausgerechnet die Staatsgrenze der Ukraine ist unvollständig eingezeichnet.

Da all die anderen Karten ebenfalls keine großartige Orientierungshilfe leisten, sei als Parallellektüre nochmals der neu bearbeitete "Diercke Weltatlas" empfohlen. Dort können zweifelnde Leser außerdem überprüfen, wo der Gelbe Fluss und der Jangtsekiang tatsächlich entspringen, von denen es fehlerhaft heißt: "die beide von Ost nach West fließen". Mit Yin und Yang hat das wenig zu tun, eher mit einem Reporter, der zwar das neokoloniale Verhalten chinesischer Unternehmen in Afrika treffend beschreibt, jedoch in der Volksrepublik nicht sorgfältig genug recherchiert hat. Dabei hätte Tim Marshall feststellen können, dass es nicht bloß "Die Macht der Geographie" gibt. Die Kartografie prägt ebenso Menschen und ihr Weltbild. Schon wenn chinesische Schüler ihre Bücher aufschlagen, haben sie eine ganz anders gestaltete Weltkarte vor sich als wir. Auf ihr liegen Europa am westlichen und Amerika am östlichen Rand, dazwischen der Indische Ozean, der Pazifik und eben sie selbst. Kein Wunder, wenn die Leute hinter der Großen Mauer ihre Heimat seit Langem "zhong guo" (Reich der Mitte) nennen - und entsprechend denken.

Leseprobe

Einen Auszug aus "Die Macht der Geographie" von Tim Marshall stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Ein bisschen viel Fachchinesisch bietet eine weitere Neuerscheinung; sie stammt von einem deutsch-französischen Forscherteam und ihr Titel kommt einem zunächst spanisch vor: "Phantomgrenzen". Damit sind Markierungen gemeint, die auf thematisch gefertigten Spezialkarten zu finden sind. Sie verdeutlichen politische, soziale oder kulturelle Merkmale eines abgegrenzten Gebietes. Ein seltenes Beispiel aus den sonst oft abstrakt formulierten Beiträgen veranschaulicht das etwas genauer, es ist eine "Karte der Wasserhähne im ländlichen Rumänien". Sie zeigt exemplarisch den deutlichen Unterschied beim Lebensstandard in verschieden entwickelten Regionen. Ansonsten dokumentiert dieser sparsam illustrierte Band vorwiegend die sozialwissenschaftliche Diskussion, wie durch neue Methoden bessere geopolitische Forschungsergebnisse erreicht werden können. Ein Buch fürs interessierte Fachpublikum, das sich nicht an ellenlangen Fußnoten und Sprachbarrieren stört.

Werner Hornung bespricht seit fast fünfzig Jahren politische Bücher und kartografische Literatur.

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