Forensische Psychiatrie:Wenn ein psychisch kranker Mensch sich zu einer "Abwehrhandlung" gezwungen sieht

In sehr seltenen Fällen kann ein Geisteskranker eine harmlose Begegnung für so bedrohlich halten, dass er tötet. Fragen an den forensischen Psychiater Michael Osterheider nach der Messerattacke von Grafing.

Interview von Markus C. Schulte von Drach

Zum Glück geschieht es nur selten: Wenn ein Mensch ohne ersichtlichen Anlass einen anderen tötet, steht die Gesellschaft vor einem Rätsel. Meist stellt sich heraus, dass der Täter geisteskrank ist. Fragen dazu an Michael Osterheider, Professor für forensische Psychiatrie an der Universität Regensburg.

SZ: Wie gefährlich sind Menschen mit psychischen Krankheiten?

Michael Osterheider: Betrachtet man ganz allgemein Menschen mit psychischen Krankheiten, dann geht von dieser Gruppe keine größere Gefahr aus als von der gesunden Bevölkerung. Für Patienten, die unter Psychosen leiden, sieht es etwas anders aus. Betroffen sind vor allem bestimmte Schizophrenie-Patienten. Solche mit paranoid-halluzinatorischer oder katatonischer Psychose.

Worunter genau leiden diese Menschen?

Paranoid-schizophrene Patienten fühlen sich systematisch verfolgt, bedroht und beeinträchtigt, obwohl es dazu keinen realen Anlass gibt. Um sich gegen die bedrohliche Umwelt und die ihnen feindlich gesinnten Mächte zu wappnen, bewaffnen sie sich manchmal minimal, etwa mit einem Messer.

Begegnen sie im angespannten, erregten Zustand jemanden, der eine Gefahr darzustellen scheint, kann es passieren, dass sie ihn angreifen. Dabei handelt es sich aus ihrer kranken, subjektiven Sicht heraus um eine zielgerichtete Abwehrhandlung.

Gegen Menschen, die ihnen noch nie etwas getan oder sie bedroht haben?

Logischen Argumenten sind die Betroffenen gar nicht mehr zugänglich. Dazu kommen häufig halluzinatorische Elemente. Die Betroffenen hören etwa Stimmen, auch solche, die ihnen Aufträge erteilen oder Befehle geben und sie auf angebliche Bedrohungen hinweisen. Etwa dass ein anderer Mensch "böse" ist und vernichtet werden muss.

Der Wahn wird also durch Sinnesstörungen unterstützt, und die Patienten erleben das als Realität. Die Patienten mit katatonischer Schizophrenie leiden dagegen vor allem unter psychomotorischen Störungen. Das heißt, sie fallen manchmal in einen Starrezustand. Sie haben nicht dieses Gefühl, die ganze Welt sei gegen sie und leiden weniger unter Halluzinationen.

Zu einem Wahn kann es jedoch kommen. Diese Patienten fallen manchmal unvermittelt in einen Erregungszustand, bei dem die Impulskontrolle nicht mehr funktioniert. Dann kann es passieren, dass sie unvermittelt irgendjemanden beschimpfen, anspucken oder schlagen.

Das klingt beängstigend.

Wenn diese Patienten behandelt und betreut werden, dann ist die Gefahr, die von ihnen ausgeht, nur geringfügig höher als bei anderen Menschen. Werden sie nicht behandelt, zum Beispiel weil die Krankheit noch gar nicht erkannt wurde, ist das Risiko, dass sie gewalttätig werden, tatsächlich um mindestens ein Zehnfaches größer als bei einem geistig Gesunden. Wenn so jemand sich einer Behandlung widersetzt und schon durch aggressives Verhalten aufgefallen ist, kann es notwendig sein, ihn in die Psychiatrie einzuweisen.

Aber, und das ist ganz wichtig: Es handelt sich um eine ganz kleine Gruppe. Schon zu behaupten, schizophrene Menschen seien gefährlich, wäre falsch und stigmatisierend. Und ob eine Zwangseinweisung notwendig ist, muss sorgfältig abgewogen werden.

Gibt es konkrete Zahlen zur Häufigkeit von Gewalt durch solche Patienten?

Nein. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand irgendwann in seinem Leben an einer Schizophrenie erkrankt, liegt bei ein bis zwei Prozent.

Das bedeutet, von hundert Personen, mit denen ich jeden Tag zusammen mit der S-Bahn fahre, sind ein oder zwei schizophren?

Nein. Von diesen Menschen sind, waren oder werden einer oder zwei an einer Schizophrenie erkranken. Und von diesen Menschen ist es wieder nur ein ganz kleiner Bruchteil, der ein gewisses Risiko darstellt. Und ein wirklich sehr, sehr geringer Teil der Patienten begeht tatsächlich ein Tötungsdelikt. Und auch das hängt von den Umständen ab, unter denen sich Täter und Opfer begegnen.

Woran erkenne ich, dass Gefahr besteht? Gibt es Verhaltensweisen, auf die man achten kann?

Menschen mit einer unbehandelten Psychose zeigen schon ein auffälliges Verhalten. Das muss aber nicht aggressiv sein. Aber auf jeden Fall ist es unangemessen, so jemanden als Spinner zu beschimpfen und zu versuchen, ihn zu vertreiben. Am besten ist es, sich zurückzuhalten, Abstand zu wahren, den Betroffenen nicht zu konfrontieren oder zu provozieren. Ist jemand paranoid, dann kann sogar der Versuch, ihn zu beruhigen, zu einer Fehlwahrnehmung führen und der Patient fühlt sich bedroht. Aber noch einmal: Dass es zu Gewalt kommt, ist wirklich extrem selten.

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