Doping:"Vorne Olympiasieger gefeiert, hinten Urinproben vertauscht"

Sochi Olympics Closing Ceremony

Russischer Dreifacherfolg beim Langlauf-Massenstart über 50 Kilometer: Alexander Legkow (Mitte), Maxim Wylegschanin (links) und Ilia Tschernoussow (rechts)

(Foto: picture alliance / AP Photo)

Grigori Rodschenkow ist in die USA geflohen und packt aus: In einem dreitägigen Interview erklärt der Ex-Chef des russischen Dopinglabors detailliert die Vorgänge bei den Winterspielen in Sotschi. Einiges macht sprachlos.

Von Carsten Eberts

Die Stimmung in Sotschi war blendend vor zwei Jahren, zumindest unter den russischen Sportfans. Über die Retorten-Winterspiele im Sommerluftkurort war viel Kritik ausgeschüttet worden, doch als die Spiele begannen, dominierten die Athleten aus dem Gastgeberland. 13 Mal Gold, elfmal Silber, neunmal Bronze. Platz eins im Medaillenspiegel. Präsident Wladimir Putin holte sich bei seinen Besuchen in den Häusern anderer Nationen einige Schulterklopfer ab.

Doping spielte, so wurde der Eindruck damals erweckt, kaum eine Rolle. Zwar wurden sieben Athleten mit positiven Proben erwischt, darunter die deutsche Biathletin Evi Sachenbacher-Stehle, ansonsten noch ein Italiener, ein Pole, zwei Ukrainer, ein Österreicher, ein Lette und ein Schwede. Jedoch keine Russen.

Der Glaube an einen sauberen russischen Olympiakader wurde anschließend vielfach bezweifelt, waren es doch sonst häufig russische Athleten, die in Dopingvergehen, unter anderem in der Leichtathletik, verwickelt waren. Dass bei Olympia niemand aufflog, soll - laut eines aktuellen Berichts der New York Times - damit zu tun gehabt haben, dass Russland ein staatlich gestütztes Netzwerk zur Vertuschung installiert hat.

Grigori Rodschenkow, ein Mann mittleren Alters mit Schnauzbart und dick umrandeter Brille, war damals Chef des russischen Doping-Kontrolllabors. Mittlerweile ist er nach Los Angeles gezogen, weil er in Russland um seine Sicherheit fürchte. Als Kronzeuge berichtet er, wie alles abgelaufen sein soll. In einem dreitägigen Interview mit dem Filmemacher Bryan Fogel packt er über die angeblichen Praktiken aus. Hier die Details seiner Aussagen:

  • Wie Rodschenkow in der NYT berichtet, sei die Mission im Herbst 2013 angelaufen. In den sechs Monaten vor Olympia habe er sich wöchentlich mit Vertretern des russischen Ministeriums getroffen. Geholfen habe der russische Geheimdienst FSB. Schon 2012, im Vorfeld der Sommerspiele in London, habe Rodschenkow einen Doping-Cocktail aus drei leistungssteigernden Substanzen entwickelt. Wer diesen zu sich nahm, hätte bei den offiziellen Kontrollen eigentlich auffliegen müssen.
  • In Sotschi habe Rodschenkow jeden Abend eine Liste mit den Namen jener Athleten erhalten, deren Proben getauscht werden mussten. Er selbst sei nach Mitternacht in ein Schattenlabor gegangen, in Raum 124, offiziell ein Lagerraum. Hier habe er im abgedunkelten Raum durch ein Loch in der Wand, knapp über Fußbodenhöhe, die Dopingproben der betreffenden Athleten erhalten. Er habe den Urin in die Toilette gekippt, die Fläschchen ausgespült, dann getrocknet und "sauberen" Urin hineingefüllt, den er in Wasserflaschen oder Babyfläschchen erhalten habe. "Bis zu 100 schmutzige Tests" seien so vernichtet worden: "Die Menschen haben die Olympiasieger gefeiert, aber wir saßen da und haben Urinproben ausgetauscht."
  • Knackpunkt der Mission sei gewesen, die verschlossenen Dopingproben zu öffnen und wieder zu verschließen, so dass kein Mitarbeiter der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) Verdacht schöpfe. Er selbst habe das Verfahren zuvor als "manipulationssicher" erachtet, so Rodschenkow. Bis ihm ein Geheimdienstmitarbeiter gezeigt habe, wie sich eine solche Probe öffnen lässt: "Als ich zum ersten Mal sah, dass die Flasche geöffnet war, konnte ich meinen Augen nicht glauben."
  • Die Sportler selbst hätten verbotenerweise Fotos ihrer anonymen Formulare gemacht, auf denen ein siebenstelliger Code stand, mit dem die Urinproben den Sportlern zugeordnet werden konnten. Diese Fotos hätten sie ans Ministerium geschickt. "Wir waren komplett ausgestattet, voller Wissen und Erfahrung, wir waren für Sotschi perfekt vorbereitet wie nie zuvor", erklärte Rodschenkow.
  • Gegenüber der New York Times belegte Rodschenkow seine Anschuldigungen mit E-Mails, die er vom Ministerium für Sport erhalten habe. Darin seien die Namen der beteiligten Athleten aufgeführt, insgesamt 15 spätere Medaillengewinner, unter anderem der Bobpilot Alexander Zubkow, der Skilangläufer Alexander Legkow und der Skeletonpilot Alexander Tretyakow. Der Druck auf die Sportler sei riesig gewesen in Sotschi, sie hätten den Dopingpraktiken ohne Vorbehalte zugestimmt. Die Athleten seien "wie kleine Kinder", so Rodschenkow: "Sie stecken sich alles in den Mund, was du ihnen gibst."
  • Damit der Körper der Athleten die Dopingmittel schneller aufnimmt und damit das Zeitfenster, in denen die Manipulation durch Tests hätten entdeckt werden können, verkürzt wird, habe er die Medikamente in Alkohol aufgelöst: "Whiskey für die Männer, Martini für die Frauen."

Hinter diesem angeblich gigantischen Betrug soll der dringliche Wunsch der russischen Führung gesteckt haben, die Spiele in Sotschi sportlich zu dominieren. Deutsche Experten halten das beschriebene Szenario für denkbar, etwa Mario Thevis, Dopingforscher an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Auch die Wada kündigte bereits an, den Vorwürfen nachzugehen. Von russischer Seite wurden die brisanten Informationen umgehend dementiert: "Schon wieder wird der russische Sport attackiert", klagte Sportminister Witali Mutko: "Es ist so, als würden sich ausländische Medien den Staffelstab in die Hand geben. Das sind alles Behauptungen, aber keine Fakten." Ein Sprecher des Kremls geißelte die "Verleumdung eines Überläufers".

Auch Langlauf-Olympiasieger Legkow sagt: "Ich bin zu 300 Millionen Prozent ruhig. Rufen Sie meine Trainer an und fragen Sie, wie wir in jenem Jahr trainiert haben. Wo sitzt Rodschenkow, in Miami, in Los Angeles? Es ist sehr leicht, so etwas zu sagen, wenn du weit weg bist." Dabei hatte Rodschenkow kurz nach den Spielen von Sotschi noch einen Freundschaftsorden von Wladimir Putin erhalten.

Mit Material von dpa und sid

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