Gastkommentar:Plötzlich arm

Ein Leben lang gearbeitet und schon vor der Rente ohne Rücklagen? Für die Mittelschicht ist das ein Albtraum - und Realität. Dieses enttäuschte Gerechtigkeitsempfinden zerstört das Vertrauen in die Politik.

Von Manfred Alberti

Eine gute Ausbildung, ein anständig bezahlter Arbeitsplatz, eine respektable Karriere waren früher einmal Garanten dafür, im Alter ein sicheres Auskommen zu haben. Das ist nicht mehr so. Seit drei Jahrzehnten fallen in zunehmendem Maße auch jene Aufgaben weg, für die lange Zeit Facharbeiter, Angestellte und leitende Mitarbeiter gebraucht wurden. Outsourcing, verschlankte Hierarchien, Konzentration und in wachsendem Maße die Digitalisierung sind die Ursachen dafür.

Gleichzeitig wurden durch die Lockerungen des Kündigungsschutzes Kündigungen auch nach sehr langen Arbeitsverhältnissen erleichtert. Das soziale Netz, das Menschen früher nach so einem Jobverlust aufgefangen hat, wurde stark dezimiert und das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre heraufgesetzt. Zudem haben viele Firmen ihre Frühverrentungsprogramme beendet. Oft werden langjährige und damit teure Betriebsangehörige durch preiswertere jüngere Mitarbeiter ersetzt.

Alles zusammen hat zu einer fatalen Entwicklung geführt: Arbeitnehmer über 50 Jahren mit einem 35 oder 40 Jahre langen Arbeitsleben, die ebenso lange in die sozialen Sicherungssysteme eingezahlt haben, verlieren ihren Arbeitsplatz. Was noch schlimmer ist: Sie haben so gut wie keine Chance mehr auf eine neue Arbeitsstelle. Das betrifft nicht nur Arbeitnehmer mit geringerer Qualifikation, sondern auch Facharbeiter, leitende Angestellte und Geschäftsführer mittlerer und großer Unternehmen.

Früher konnten Betroffene weitgehend mit Abfindungszahlungen, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, zusätzlichem Job und frühem Renteneinstieg die Zeit bis zur Verrentung überbrücken. Das Polster des angesparten Vermögens wurde nur als Puffer für Notfälle gebraucht.

Heute muss man schon nach zwölf bis 24 Monaten Arbeitslosengeld das Sparguthaben für den Lebensunterhalt aufbrauchen, bevor der Bezug von Hartz IV möglich ist. Das bedeutet, dass die hoch qualifizierte Fachkraft mit 35 Berufsjahren bei einer Kündigung im Alter von 55 Jahren nach 18 Monaten Arbeitslosengeld für den Lebensunterhalt ihr Vermögen bis zum Schonvermögen von etwa 10 000 Euro ausgeben muss. Die Zeit bis zum Renteneintritt mit 65 bis 67 Jahren ist dann oft nicht mehr zu überbrücken, ohne das Vermögen weitgehend zu verlieren - de facto ist man dann arm.

Dieses Risiko von Armut, Verlust seines Lebensstils und seiner sozialen Stellung hat der Mensch nicht durch eigenes Fehlverhalten zu verantworten. Es ist ein neues gesellschaftliches Lebensrisiko, dem er trotz eigener Anstrengungen nicht entkommen kann.

Eine solche Verarmung vor dem Rentenbeginn haben sich viele Menschen nie vorstellen können. Sie verlieren ihr Vermögen, müssen als Alterssicherung gedachte Häuser verlassen, wenn diese für ein Ehepaar zu groß sind (ab 80 bis 90 Quadratmeter), und können ihre familiäre Verantwortung für die Ausbildung und das Studium ihrer Kinder nicht mehr so wahrnehmen, wie sie das geplant hatten.

Diese Entwicklung ist zu einer Katastrophe für die Mittelschicht in Deutschland geworden. Bei vielen 45- bis 65-Jährigen zerstört diese sehr präsente Existenzangst das Vertrauen in den Staat und die Politik. Im vergangenen Jahrhundert hatte der Staat in wachsendem Maße Strukturen bereitgestellt, in denen der Mensch normalerweise einen sicheren Lebensweg gehen konnte. Das ist weggefallen.

Die Distanz zu Politik und Staat wird dabei durch ein enttäuschtes Gerechtigkeitsempfinden verstärkt: Wie kann es sein, dass man als 57-Jähriger nach 40 Arbeitsjahren und ebenso langen Zahlungen in die sozialen Sicherungssysteme und nach zwei Jahren Arbeitslosengeld fast vor dem Nichts steht und nach dem Aufbrauchen des Sparguthabens im Bezug von Hartz IV demjenigen gleichgestellt ist, der nichts eingezahlt hat, aber den gleichen Anspruch auf Sicherung seines Lebensunterhaltes besitzt?

Auf diese Fragen hat die Politik noch keine Antwort gefunden. Wahrscheinlich haben Politik und Medien dieses brisante Thema noch nicht einmal in seiner Dringlichkeit entdeckt. Sonst hätte es bei den Analysen dazu, warum die etablierten Parteien so viel Rückhalt in der Bevölkerung verloren haben, eine wichtige Rolle spielen müssen.

Die Altersarmut ängstigt Geringverdiener. Die Voraltersarmut ist die Sorge der Mittelschicht.

Manfred Alberti, 67, ist Pfarrer im Ruhestand und betreut ehrenamtlich Senioren.

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