Theater:Exoten hinter Glas

Theater: Parallelwelten auf einer Bühne: Stefan Merki, Jochen Noch, Sylvana Seddig und Peter Brombacher in "América".

Parallelwelten auf einer Bühne: Stefan Merki, Jochen Noch, Sylvana Seddig und Peter Brombacher in "América".

(Foto: Arno Declair)

Stefan Pucher hat für die Münchner Kammerspiele T. C. Boyles Roman "América" adaptiert. Eine großartige Geschichte darüber, wie ein Panikbürger entsteht - aber Pucher bremst sich dabei selbst aus.

Von Cornelia Fiedler

Feindbilder brauchen Distanz, um zu funktionieren. Lässt man den anderen, den, der da zum Beispiel gerade auf der Flucht ist, zu nah ran, besteht die Gefahr, ihn als menschlich zu erkennen, am Ende gar seine Motive zu verstehen - und dann? Das kann man verhindern: Grenzen dichtmachen, selektieren anhand legitimer und angeblich weniger legitimer Fluchtgründe. Und vor allem gibt es eine Abgrenzung auf psychologischer Ebene. Da wird dann die Fremdheit betont, die "kulturellen Unterschiede". Hinter solchem Denken steckt, warnt der österreichische Autor und Psychoanalytiker Sama Maani in seinem Essayband "Respektverweigerung", dumpfer Biologismus. "Kultur" werde verwendet wie früher "Volkscharakter". Sie wird nicht als Produkt der Sozialisation definiert, sondern als etwas Unveränderliches.

Für dieses unbewusste Distanz-Schaffen findet Bühnenbildnerin Barbara Ehnes in "América" an den Münchner Kammerspielen ein klares, brutales Bild: "Die Mexikaner", "die Fremden" stehen und spielen hinter Glas, als Objekte platziert in Dioramen wie aus dem Naturkundemuseum. T. C. Boyles Roman "América" erzählt die Geschichte eines Rechtsrucks. Der "liberale Humanist ohne Verkehrssündenregister" Delaney, in Stefan Puchers Romanadaption schwärmerisch verpeilt gespielt von Jan Bluthardt, verletzt den Mexikaner Cándido bei einem Unfall. Nach dem ersten Schock erkennt er seinen ungeheuren Vorteil. Der andere ist illegal im Land, er kann ihn nicht anzeigen, nicht verklagen, keinen Schadensersatz fordern. Doch damit nicht genug. Delaney macht sich nach und nach die rassistischen Argumentationen der Zuwanderungsgegner zu eigen - ein verquerer Klassiker aus Schuldabwehr und Projektion.

Die Inszenierung betont den amerikanischen Kontext des Jahres 1995, spielt mit Klischees wie dem breitbeinigen Redneck-Gehabe von Delaneys Nachbarn, mit Cowboystiefeln und protzigen Gürtelschnallen (Kostüm: Annabelle Witt), mit der Sitcom-Exaltiertheit von Wiebke Puls als Ehefrau Kyra. Vieles klingt dennoch vertraut - aus Deutschland 2016, aus einem Europa dessen Grenzen gerade festungsartig ausgebaut werden.

Auf der Bühne kompiliert Pucher mehrere Parallelwelten. Der Vordergrund gehört Delaney, dem wandernden Autor von Naturkolumnen und Maklerin Kyra mit ihrer gesunden Mittelstands-Ignoranz. Hinter ihnen befinden sich drei Guckkästen. Darin werden wahlweise Kojoten oder Migranten ausgestellt - und bei Bedarf mit großformatigen Fotos von Pool, Villa oder Supermarkt überdeckt. Über ihnen flimmern Videos, Szenen von Cándido und seiner schwangeren Frau América in ihrem ärmlichen Camp im Canyon oder bei der erniedrigenden Arbeitssuche, Rückblenden im Stil einer Fernseh-Doku. Hinter Glas ausgestellt und exotisiert, als stilisierte Tableaux vivants, gelingen Gonzalo Cunill als Cándido und Sylvana Seddig als América die stärksten Szenen. Verzweifelte, brutale Stille, zarte Nähe, Variationen von Gewalt und Abhängigkeit.

Das durchkonstruierte sprechende Setting wird allerdings nach der Hälfte des Abends komplett zerlegt, um einer einzigen, deutlich schwächeren Metapher Platz zu machen. Stellvertretend für die Mauer, die um Delaneys Gated Community gebaut wird - zum Schutz vor Wildtieren, vor allem aber vor Armen - entsteht im Zuschauerraum auf Höhe der Köpfe ein kreuzförmiger Laufsteg. Wer im Weg sitzt, muss umsiedeln, an die Biertische der Coyote-Bar auf der Bühne. Statt Speisekarten bekommen einige dort Textbücher, aus denen sie vorlesen, wie die Geschichte weitergeht: América und Cándido werden ausgeraubt und gedemütigt, im Canyon bricht ein Feuer aus, ihr Kind kommt in einem Schuppen zur Welt. Währenddessen mutiert Delaney zum Panikbürger, gibt "den Mexikanern" die Schuld für all seine kleinen Sorgen, gründet eine bewaffnete Ein-Mann-Bürgerwehr. Der Frage, wie und warum dieser Hirnverlust passiert, räumt T. C. Boyle in seinem Roman viel Raum ein. Seine Beobachtungen hätten auch etwas über unsere eigene akute Anfälligkeit für Ängste und Vereinfachungen erzählen können. Dafür aber handelt Pucher sie zu beiläufig ab.

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