Westfernsehen in der DDR:Geistige Grenzgänger

Sogar Kulenkampff-Shows und das "Wort zum Sonntag" galten in der DDR als potenziell gefährlich. Eine neue Dissertation zeigt den Kontrollwahn des Parteiapparates.

Von Ralf Husemann

Erich Honecker tat es, und er machte zur Verblüffung seiner Landsleute auch gar keinen Hehl daraus. Der damals unangefochten starke Mann der DDR, der seit 1976 sowohl Partei- wie Staatschef war, räumte in einem Interview mit der Saarbrücker Zeitung im Februar 1977 unumwunden ein, dass er auch westliche Fernsehsendungen gucke. Dergleichen war zwar zu keinem Zeitpunkt in dem sozialistischen Staat offiziell verboten, die Nutzung westlicher "Hetzsender" galt aber immer als verpönt und äußerst verdächtig. Und es wurden auch keine Schikanen und Drohungen ausgelassen, um den eigenen Bürgern "das geistige Grenzgängertum" zu verleiden. Doch die ließen sich über die Jahrzehnte hinweg von der staatlichen Propaganda wenig beeindrucken und hörten unverdrossen weiter westliche Hitparaden und sahen sich Fußballspiele in der ARD, später auch im ZDF und den Privatsendern an.

Schon Mitte der 1960er-Jahre fand das DDR-Fernsehen durch Befragungen heraus, dass etwa 85 Prozent der Landsleute Westempfang hatten. Daran änderte auch das Verkaufsverbot dafür geeigneter Antennen und Störsender nichts. Die Findigkeit vieler Bastler und auch die zunehmende Resignation der Partei-Oberen vor dem hartnäckigen Widerstand der Bevölkerung führten dazu, dass das unliebsame Freizeitvergnügen schließlich weitgehend hingenommen wurde.

Arbeiterinnen in der Radiofertigung in der DDR

Radio-Monteurinnen im volkseigenen Betrieb Stern-Radio Berlin. Findigen Bastlern war es in der DDR schon früh gelungen, Anti-West-Störsender zu umgehen.

(Foto: Kurt Seliger)

Was wirklich erlaubt, geduldet oder verboten war, war vielen Bürgern nicht klar

Franziska Kuschel, 1980 in der DDR geboren, hat sich in ihrem Studium und auch als Referentin bei der Enquetekommission zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur des Brandenburger Landtags intensiv mit der Medienpolitik des ostdeutschen Staates beschäftigt. In ihrer Magisterarbeit geht es um den Schauprozess gegen den RIAS 1955 und jetzt in ihrer Dissertation eben um den vergeblichen Kampf der DDR gegen "die verbrecherische Tätigkeit" der "Nato-Sender". Die sehr gründliche und penibel recherchierte Doktorarbeit mit ihren mehr als 1200 Anmerkungen ist nicht immer leicht zu lesen, bietet aber einen profunden, spannenden und aufschlussreichen Einblick in den Kontrollwahn eines Partei- und Staatsapparates, der seinen eigenen Bürgern bis zum bitteren Ende immer zutiefst misstraute. Daran konnte auch der "neue Kurs" Erich Honeckers nichts ändern, als er schon zwei Jahre nach der Ablösung Walter Ulbrichts auf einer Sitzung des Zentralkomitees der SED im Mai 1973 sagte, dass "bei uns jeder nach Belieben" Hörfunk- und Fernsehprogramme der Bundesrepublik "ein- und ausschalten" könne.

Mit einer solchen Äußerung trug er sogar noch mehr zur Verwirrung bei. Denn was nun wirklich erlaubt, geduldet oder verboten war, das war nun weniger klar denn je. Denn auch wenn man zu Hause die Bundesliga gucken durfte, so wurden zugleich harte Strafen verhängt, wenn man dazu Nachbarn einlud oder wenn man am Arbeitsplatz etwas über den vergangenen Fernsehabend erzählte. Sofort geriet dann der DDR-Bürger in die Gefahr, wegen Verbreitung von "staatsfeindlicher Hetze" belangt zu werden. Denn "die geheimen Verführer", wie der spätere PDS- und Linken-Vorsitzende Lothar Bisky 1981 die Westmedien in einem Buchtitel nannte, galten selbst dann nicht als harmlos, wenn sie nur zur Unterhaltung dienten. Denn nach Überzeugung des Ministeriums für Staatssicherheit konnte jede Sendung, wie es in ihrem Partei-Chinesisch hieß, "im Sinne der politisch-ideologischen Diversion wirksam werden". Und das waren dann eben nicht nur Sendungen, die tatsächlich Missstände in der DDR benannten, wie Gerhard Löwenthals spitzzüngiges ZDF-Magazin oder unliebsame Sendungen von RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) oder vom CIA-finanzierten Radio Free Europe, sondern auch etwa eine Kulenkampff-Show oder "Das Wort zum Sonntag".

Franziska Kuschel Schwarzhörer, Schwarzseher und heimliche Leser

Franziska Kuschel: Schwarzhörer, Schwarzseher und heimliche Leser. Die DDR und die Westmedien. Wallstein-Verlag, Göttingen 2016. 336 Seiten, 34,90 Euro. E-Book: 27,99 Euro.

Am gefährlichsten wurde es, wenn man es wagte, Kontakt zum "Feind" aufzunehmen oder ihm gar "Informationen" zuzuspielen. Wobei auch banale Mitteilungen sehr schnell als "Staatsgeheimnis" galten. In solchen Fällen hörte das sonst übliche Räuber- und Gendarmenspiel auf und die ganze Brutalität und die Paranoia des SED-Staates wurden sichtbar. Am drastischsten in dem bereits zitierten Schauprozess gegen fünf (mehr oder minder zufällig ausgewählte) Angeklagte im RIAS-Prozess. Vier wurden als "Agenten" zu langjährigen Haftstrafen, der 29-jährige Ostberliner Dekorateur Joachim Wiebach sogar, nach Intervention von Walter Ulbricht, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Sicher ein Sonderfall, aber hohe Zuchthausstrafen wurden immer wieder mal verhängt, über Klempner, über Gastgeber von Fernsehabenden oder über Briefeschreiber. Und Heerscharen von Agenten des MfS waren ständig damit beschäftigt, die Bürger entsprechend auszuforschen. Auch dies geschah immer willkürlich. Die große Mehrheit ging straffrei aus.

Kein Wunder, dass Kuschels Bilanz schließlich lautet: "Indirekt trugen die DDR-Medien und die staatliche Medienpolitik zur Erosion des Sozialismus bei." Das ist sogar noch sehr zurückhaltend formuliert. Die ständige Bevormundung der Bürger, nicht nur bei der verwehrten Ausreise, sondern gerade auch beim Medienkonsum, ist geradezu ein Lehrbeispiel dafür, wie die DDR ihre Bürger schließlich zur Überzeugung brachte, dass sie einen solchen Staat nicht länger ertragen wollten.

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