Gesundheit:Bayerns kranke Kinder

Debatte um neue 'Unterschicht' - Kind am Fenster

"Eine ausreichende qualifizierte Überprüfung von Kindeswohlgefährdungen ist nicht mehr möglich": Vielen Jugendämtern fehlt es schlicht an Personal.

(Foto: Gero Breloer/dpa)
  • Laut einem Bericht der Staatsregierung hat jeder vierte Heranwachsende in Bayern eine psychische Störung oder ist in seiner Entwicklung verzögert.
  • Ministerin Melanie Huml (CSU) rät Eltern, wachsam zu sein und Auffälligkeiten untersuchen zu lassen.
  • Bei der Versorgung der Kinder und Jugendlichen gibt es deutliche regionale Unterschiede.

Von Dietrich Mittler

Erstmals liegt für Bayern ein umfassender Bericht zur psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen vor. Auf 98 Seiten fasst er nicht nur die Erkenntnisse aus unterschiedlichen Datenquellen zusammen, sondern nennt auch Hilfsangebote und Anlaufstellen. "Ich möchte darauf hinwirken, dass die Betroffenen frühzeitig Hilfe finden", sagte Gesundheitsministerin Melanie Huml bei der Vorstellung des Berichts.

Zu erschütternd sei, was im schlimmsten Fall passieren könne: Im Jahr 2014 nahmen sich 48 Heranwachsende unter 20 Jahren das Leben, zumeist als Folge einer Depression. Bayern liegt damit leicht über dem Bundesdurchschnitt. Nach tödlichen Unfällen sind Suizide in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen die zweithäufigste Todesursache.

Vor allem jüngere Kinder sind betroffen

Entwicklungsstörungen, von denen vor allem jüngere Kinder betroffen sind, gehörten zu den am häufigsten von Kinderärzten gestellten Diagnosen, sagte die Ministerin. Dazu zählen zum Beispiel exzessives Schreien sowie Schlaf- und Fütterstörungen, aber auch emotionale Auffälligkeiten wie massive Ängstlichkeit, Trotzen, aggressives Verhalten oder Spielunlust. Wie aus dem Bericht hervorgeht, können diese, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird, in ernsthafte emotionale Störungen und psychische Erkrankungen übergehen. Essstörungen zum Beispiel, aber auch späterer exzessiver Suchtmittelmissbrauch können bereits sehr früh angelegt sein.

Eltern, so die Botschaft, sollten wachsam sein und Auffälligkeiten untersuchen lassen. Damit könne man gar nicht früh genug beginnen. Erhebungen zufolge wird bereits bei gut 15 Prozent der Kinder im ersten Lebensjahr eine Störung diagnostiziert.

Im Alter zwischen sieben und 14 Jahren gewinnen Verhaltens- und emotionale Störungen an Bedeutung. "Hier macht das Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätssyndrom ADHS gut die Hälfte der Diagnosen aus", heißt es im Bericht. 2014 wurde bei mehr als 80 000 Heranwachsenden unter 18 Jahren ADHS diagnostiziert. In der Altersgruppe der 15- bis 17-Jährigen treten indes auch verstärkt Depressionen auf.

Im Freistaat leben aktuell um die 1,7 Millionen Kinder im Alter unter 15 Jahren sowie 400 000 Jugendliche im Alter von 15 bis unter 18 Jahren. Einem Großteil dieser Kinder und Jugendlichen geht es nach Humls Aussage gut und "vielen von ihnen sogar sehr gut". Dennoch sind die Fallzahlen derer, denen es schlecht geht, erschreckend: Gut ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Bayern hat psychische Probleme.

Den Daten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) zufolge lag bei fast 470 000 Kindern und Jugendlichen die Diagnose einer psychischen Störung beziehungsweise einer Entwicklungsstörung vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die KVB nur die gesetzlich Krankenversicherten aufzählt, nicht aber die Privatversicherten.

Wo es zu Engpässen in der Versorgung kommt

Fakt ist: In Bayern müssen zwar weniger Kinder und Jugendliche wegen psychischer Störungen stationär behandelt werden, aber auch hier hat die Unterbringung in Fachabteilungen von Krankenhäusern oder in Einrichtungen der Jugendpsychiatrie "kontinuierlich zugenommen".

Im Jahr 2014 - der Großteil der ausgewerteten Daten stammt aus diesem Jahr - gab es demnach 6190 Krankenhausfälle infolge psychischer Störungen bei bayerischen Kindern unter 15 Jahren und weitere 13 596 Fälle bei Jugendlichen der Altersgruppe 15 bis unter 20 Jahre.

Dass diese Zahlen steigen, lässt nach Auffassung der Gesundheitsministerin auch positive Schlüsse zu: "Das liegt zum Teil sicher daran, dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für dieses Thema deutlich gestiegen ist und auch die Behandlungsangebote ausgeweitet werden konnten", sagte sie.

Bei der Versorgung der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Problemen gibt es indes deutliche regionale Unterschiede. So etwa praktizieren in Niederbayern nicht einmal halb so viele Kinder- und Jugendpsychotherapeuten wie in Oberbayern. Besonders prekär ist die Versorgung der Betroffenen in der nördlichen Oberpfalz mit einem Versorgungsgrad von gerade einmal 42,2 Prozent. Im Vergleich dazu kommt der Großraum München auf 101,3 Prozent, der Raum Landshut auf 162,7 Prozent und die unterfränkische Region Würzburg gar auf 402,6 Prozent.

Verbesserungswürdig ist die Situation rund um Ingolstadt (60,6 Prozent) und in den Regionen Donau-Wald (56,9 Prozent) und Oberfranken-Ost (61,6 Prozent). Landesweit gilt überdies, dass ein Stadt-Land-Gefälle dafür sorgt, dass es in der ambulanten Psychotherapie "zu mehrmonatigen Wartezeiten auf ein Erstgespräch beziehungsweise eine Therapie" kommen kann.

Eine erfreuliche Entwicklung zeigt sich beim Tabakkonsum: Der Anteil der jugendlichen Raucher im Alter von zwölf bis 17 Jahren hat 2015 den niedrigsten Wert seit Beginn der Erhebungen Ende der Siebziger erreicht. Zudem: "Die Zahl der Krankenhauseinweisungen infolge von Alkoholvergiftungen sind bei den Jugendlichen seit 2012 rückläufig", sagt Huml. Für eine Entwarnung ist es aber zu früh: 2014 wurden gut 5000 Heranwachsende mit einer solchen Vergiftung in eine Klinik gebracht.

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