Leichtathletik:Diskrete Deals am Nadelöhr

67 russische Leichtathleten reichen ihr Startgesuch für die Olympischen Spiele ein. Dabei erfüllen bislang offiziell nur Weitspringerin Klischina und Whistleblowerin Stepanowa die Kriterien.

Von Thomas Kistner

Nach dem kürzlich durch den Weltverband IAAF verfügten Ausschluss aller russischen Leichtathleten von den Sommerspielen in Rio de Janeiro wird die sportpolitische Krisenarbeit hinter den Kulissen immer auffälliger. In offenkundig guter informeller Abstimmung orchestrieren russische und olympische Sportfunktionären die ersten Schritte Richtung Rio. Am Sonntag bereits wollten 67 Leichtathleten "individuell" ihre Teilnahmegesuche für Olympia bei der IAAF einreichen, das hat Witalij Mutko im russischen Fernsehen angekündigt. Der Sportminister betonte: "Sie haben das Recht dazu."

Das mag sein. Allerdings ist es auch so, dass die IAAF ihre individuellen Startkriterien für russische Antragsteller ziemlich klar definiert hat: als Nadelöhr. Infrage kämen demnach nur Athleten, die sich schon über eine geraume Zeit deutlich außerhalb Russlands und des russischen Sportsystems bewegt haben. Unter diesem Aspekt betrachtet, schnurrt die Zahl 67 flott auf zwei zusammen: Da ist zum einen die Weitspringerin Darja Klischina, die seit langem überwiegend in Florida lebt - und zum anderen die mittlerweile ebenfalls in den USA ansässige Julia Stepanowa.

Dass Kronzeugin Stepanowa nicht startet, ist politisch erwünscht

Die Mittelstrecklerin und ihr Ehemann Witalij haben mit ihren weitestreichenden Enthüllungen und Zeugenaussagen die Russland-Affäre ausgelöst. Dass Whistleblowerin Stepanowa nun trotzdem in IOC-nahen Medien sogar im Westen auf ihre frühere (im russischen System organisierte und nach den Anti-Doping-Regeln voll verbüßte) Dopingsünde reduziert wird, zeigt, dass Zivilcourage nicht überall im Sport geschätzt wird. Das IOC dürfte auch in kleinen Teilen des Westens medialen Feuerschutz finden, falls es in den verbleibenden Wochen bis zu den Spielen das umsetzt, was als sportpolitisch gewünscht erscheint: Dass die Enthüllerin Stepanowa, die mit ihrer Familie aus Russland geflohen ist, doch nicht in Rio startet.

Alle heiklen Themen werden diskret ausgehandelt, das ist seit jeher oberste Prämisse der internationalen Sportpolitik. Vor diesem Hintergrund ist auch eine großmütige Erklärung zu verstehen, die Mutko am Samstag in eigener Sache abgab: Der Sportminister wäre im Falle des kompletten Ausschlusses seiner Mannschaft in Rio zum Rücktritt bereit. "Die Suspendierung unseres ganzen Teams wäre ein gewaltiger Misserfolg, für den ich die Verantwortung übernehmen würde", sagte er in Moskau nach Agenturberichten.

Allerdings reichen die vorliegenden Sachverhalte längst aus, um Mutko und seinen behördlichen Mitstreitern ein zumindest massives Mitwissen zu bescheinigen. Und am 15. Juli wird überdies ein unabhängiger Ermittlungsreport veröffentlicht, den die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada bei dem kanadischen Sportrechtler Richard McLaren in Auftrag gab - und der explizit über ein staatliches Mittun in der russischen Doping-Malaise Auskunft geben soll. Einiges ist schon durchgesickert.

Vor dem Hintergrund wirkt Mutkos vermeintliche Selbstkritik als Farce und lenkt den Blick auf das Internationale Olympische Komitee. Das IOC hatte am Dienstag in größter Hast - rechtzeitig vor der Publikation des brisanten McLaren-Reports - Einzelfallprüfungen für andere belastete Sportarten verfügt. Auch dort wollen Russen starten, und bekannt sind schon systemische Probleme quer durch die Disziplinen, vom Schwimmen bis zum Gewichtheben. Das dürfte erneut sehr unangenehm werden. Aber mit der frommen Einzelfallprüfung ist ein Komplettausschluss vom Tisch; Mutko muss das Büro nicht räumen.

Alles wirkt strategisch raffiniert eingespielt; offen bleibt wohl nur die Frage, ob auch Mutkos Leichtathleten die Kurve nach Rio noch kriegen. Sobald die IAAF die russische Antragsflut abgewiesen hat, wird diese zum obersten Sportgerichtshof Cas umgeleitet. Auf den konnte sich die olympische Funktionärswelt bisher eigentlich stets verlassen.

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