Vor dem Viertelfinale gegen Frankreich:Täglich Blutspende

Iceland? Eisdiele? In Annecy, wo Islands Nationalmannschaft in einem Hotel im Wald wohnt, nimmt kaum jemand Notiz von den 23 angesagtesten Männern des Weltfußballs.

Von Claudio Catuogno, Annecy

Von ihren Hotelzimmern aus sehen die isländischen Fußballer die Fahnen auf der anderen Seite des Lac d'Annecy. Fahnen an der Uferpromenade, Fahnen vor dem Rathaus, Fahnen über dem Deck des Restaurantschiffs MS Libellule, das gerade zur Dinnerfahrt "Dragonfly" in die Abendsonne aufbricht. Es sind die Fahnen von Frankreich, der EU, dem Departement Haute-Savoie und den umliegenden Verwaltungseinheiten. Eine isländische ist weit und breit nicht zu sehen.

Dafür, dass gerade die angesagtesten 23 Fußballer des Kontinents in der Stadt sind, ist Annecy bemerkenswert non-concerné. In einem Hotel neben dem Bahnhof haben sie im ersten Stock einen Raum für Pressekonferenzen eingerichtet, am Mittwochvormittag sitzen dort die Trainer Heimir Hallgrimsson und Lars Lagerbäck. Draußen vor der Tür kommt es zu keinerlei Tumulten. "Iceland?" Die meisten hier würden das wohl für den Namen einer neuen Eisdiele halten. Jeder zweite Laden in der Altstadt ist eine Eisdiele, die Urlauber in Annecy sind verrückt nach Eisdielen, vor allem Amerikanerinnen und Japanerinnen tragen rund um die Uhr riesige Eistüten durch die Stadt.

Die Lokalzeitung Le Dauphiné schrieb am Mittwoch: "Erstaunliche Isländer: Die haute-savoyische Luft bekommt ihnen gut." Sonst schreibt aber niemand etwas über die Isländer. An der Rue des Marquisats Richtung Albertville, kurz bevor eine kleine Straße steil in den Wald hinaufführt zum Teamhotel Les Tresoms, informiert die Gemeinde Annecy auf einer Leuchttafel über anstehende Höhepunkte: In der Bibliothek kann man sich die Ausstellung "J'aime - j'emprunte" ansehen, ich mag es, ich leihe es aus. Der Blutspendedienst hat täglich geöffnet. Und bald kommt der Handwerkermarkt wieder in die Stadt.

Einen größeren Kontrast kann es kaum geben zu dem, was die Isländer am Montagabend in Nizza erlebt haben. Dieses 2:1 im Achtelfinale gegen England, das jetzt als eine der größten Sensationen der Sportgeschichte gilt. Und das Feiern mit den Fans danach: Angeführt vom Kapitän Aron Gunnarsson zerschnitt ein kollektives "Hu! Hu!" die Luft im Stade de Nice, sodass Uneingeweihte befürchten mussten, vom Mittelmeer her würden Wikinger die Stadt überfallen. Und auch wenn der Trainer Hallgrimsson verrät, dass es sich dabei gar nicht um ein altes Vulkaninsel-Ritual handelt ("Aber wenn es euch Angst macht, behalten wir es bei") - die Isländer und ihr "Hu!", das ist jetzt der angesagteste Schrei bei dieser EM.

EURO 2016 - Round of 16 England vs Iceland

Uuh! Uuh! Wenn isländische Fußballer ihre Siege feiern, müssen Uneingeweihte befürchten, dass Wikinger die Stadt überfallen.

(Foto: Sebastien Nogier/dpa)

Bloß in England mag man sie nicht so. Und in Annecy sind sie allen egal. Aber wenn jemand gelernt hat, mit Kontrasten zu leben, dann ja wohl die Isländer auf ihrem Polarfelsen aus Feuer und Eis.

Der fleischgewordene Kontrast sitzt am Mittwoch auf dem Podium - es ist das erste Mal seit dem Triumph in Nizza, dass sich die Isländer in der Öffentlichkeit zeigen. In der Mitte sitzt der Trainer Hallgrimsson von den Vestmannaeyjar, einer vorgelagerten Inselgruppe "drei Stunden mit dem Segelboot" von der Hauptinsel entfernt, im Hauptberuf ist Hallgrimsson Zahnarzt, als sein größter sportlicher Erfolg sind 79 Ligaspiele (null Tore) mit Íþróttabandalag Vestmannaeyja vermerkt. Links neben ihm sitzt der Schwede Lars Lagerbäck. Er hat neun Jahre lang die Schweden und bei der WM 2010 die Nigerianer trainiert.

Die beiden teilen sich den Job als gleichberechtigtes Trainerduo, jedenfalls bis zum Ende der EM, danach übernimmt Hallgrimsson, 49, alleine, Lagerbäck, 67, geht in den Ruhestand. "Ich weiß, Lars, du magst keine Komplimente", sagt Hallgrimsson, "aber nach Island zu kommen und uns so viele Dinge beizubringen, das ist unbezahlbar. Wir werden erst in Zukunft begreifen, wie viel Know-how hierbleibt, wenn du gehst." Lagerbäck sitzt daneben und lächelt bescheiden.

Wie sie als Team im Alltag funktionieren, will ein Journalist wissen. "Ich bin fürs Reden zuständig", sagt Hallgrimsson.

Sowieso wirken die beiden, als hätten sie den Engländern neben allem anderen auch ihren Humor abgeknöpft. Als die Frage aufkommt, wie sie es geschafft haben, dass ausgerechnet die zwei nicht vorbelasteten Spieler eine gelbe Karte bekommen haben, weshalb Island im Viertelfinale gegen Frankreich wieder in Bestbesetzung antreten kann, sagt Hallgrimsson: "Wenn bei uns ein Spieler gelb bekommt, tauscht er einfach das Trikot mit einem anderen. Uns kennt sowieso keiner."

Aber auch jenseits der guten Laune steht das Duo Hallgrimsson/Lagerbäck für das Erfolgsgeheimnis der Isländer: Eigene Stärken ausspielen, und sich für den Rest externen Sachverstand holen, das ist eines ihrer Prinzipien. Und deshalb müssen die beiden jetzt noch mal die Geschichte erzählen, wie alles angefangen hat. Wie sie 2003 entschieden haben, dass sie ihre Trainer besser schulen müssen - damals hatte kein einziger Isländer eine A- oder B- Lizenz, elf Jahre später waren es schon über 700. "Wenn Sie heute ihr Kind zum Fußball schicken, liegt die Chance bei 90 Prozent, dass er auf einen Trainer mit Uefa-Lizenz trifft und nicht auf einen Vater, der es gut meint", sagt Hallgrimsson.

„Wenn bei uns ein Spieler eine gelbe Karte bekommt, tauscht er einfach das Trikot mit einem anderen.

Heimir Hallgrimsson, Trainer der isländischen Nationalmannschaft

Seine Stärken kennen, nach diesem Motto hat Lagerbäck auch die Taktik festgelegt. Die Isländer können: mit enormem Einsatz ein kompaktes 4-4-2-System spielen, das dem Gegner kaum Räume lässt. Sie können: Tore nach Einwürfen und langen Bällen. Sie können nicht: Kurzpass- und Kombinationsspiel. Also lassen sie es. Ihren größten Vorteil wollen Lagerbäck und Hallgrimsson aber auch nicht verschweigen: dass niemand etwas von ihnen erwartet. Vom EM-Gastgeber erwarten alle den Titel, das kann zu Verkrampfungen führen. Vielleicht kriegen am Sonntag ja auch die Franzosen das große Zittern, schon bevor jemand "Hu!" brüllt?

Ihren Spielern haben die beiden Trainer am Mittwoch freigegeben; womöglich sind sie unerkannt Eis essen gegangen, aber das ist nur Spekulation. Am Donnerstag versammeln sie sich dann wieder auf dem Trainingsplatz in Annecy-le-Vieux.

Auf dem Weg dorthin steht ein schiefes Einfamilienhaus, kaputte Fensterläden, ein aus den Angeln gehobenes Gartentor. Die Bewohner haben ein Seil gespannt für die Wäsche und ein zweites aus aktuellem Anlass, von einer Straßenlaterne zu einem Baum. Daran, tatsächlich, eine isländische Fahne. Und handgeschrieben auf einem Bettlaken: "July 3rd. The saga continues."

Die Island-Saga geht weiter.

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