Halbfinale der Fußball-EM:Bitte an die Standards denken!

Die DFB-Elf hat sich im Verlauf dieser EM stetig verbessert - eine große Stärke aber hat sie vergessen. Dabei könnte es gegen Frankreich auf sie ankommen.

Kommentar von Christof Kneer

Bevor die Deutschen damals zum Spiel gegen Frankreich nach Rio des Janeiro gereist sind, haben sie noch mal Standardsituationen trainiert. Sie haben auch Standardsituationen trainiert, bevor sie zum Halbfinale nach Belo Horizonte geflogen sind, sie haben es vor dem Finale trainiert und auch vor dem ersten, zweiten und dritten Gruppenspiel sowie dem Achtelfinale.

Vor jedem WM-Spiel haben sie noch mal das aufgefrischt, was sie sich im Trainingslager in Südtirol erarbeitet hatten, sie haben "einen kleinen Reiz" gesetzt, wie das die neumodischen Sportwissenschaftler in ihrem neumodischen Sportwissenschaftlerdeutsch nennen. Sofern man sich korrekt erinnert, ist Deutschland am Ende dank all der kleinen Reize Weltmeister gewesen, wozu, wenn man sich ebenfalls korrekt erinnert, vier Tore nach Eckbällen, zwei nach Freistößen sowie ein Elfmetertor beitrugen.

Flick überzeugte Löw von der Notwendigkeit dieses Stilmittels

Dass Joachim Löw einmal die Standardsituationen für sich entdecken würde, war in etwa so vorhersehbar wie ein von der CDU betriebener Atomausstieg. Immerhin ging Löws jäher Kehrtwende eine Art innerparteiliche Debatte voraus, er hat sich von seinem Büroleiter Hansi Flick von der Notwendigkeit dieses lange abgelehnten Stilmittels überzeugen lassen. Der ehemalige Büroleiter ist inzwischen in ein höheres Parteiamt aufgestiegen - ob es an Hansi Flicks Abwesenheit bei dieser EM liegt, dass es im Viertelfinale gegen Italien zwei Eckballvarianten zu sehen gab, die an der Basis vermutlich nicht so gut ankommen?

Toni Kroos stand draußen beim Eckball, Mesut Özil kam zu ihm hinausgelaufen, stellte sich neben ihn und bekam nach einigem Zögern den Ball zugeschoben. Ein paar Minuten später gab's dasselbe Bild auf der anderen Seite. Es war dann jeweils so, dass drinnen ein Spieler zu wenig war und draußen einer zu viel, und der Ball wunderte sich, was die Spieler da draußen eigentlich von ihm wollten. Sie machten dann irgendwas mit ihm, woran man sich aber nicht mehr erinnern kann. Der Eckball brachte jedenfalls nichts ein, wie das im altmodischen Sportreporterdeutsch heißt.

Die deutsche Nationalelf ist sehr gründlich ins Halbfinale eingezogen, sie hat zwar Fehler gemacht, aber keinen zweimal, und auf fast beängstigende Weise hat sie alles, was in einem Spiel mal schieflief, im nächsten Spiel wieder begradigt.

Die deutsche Elf war auf alles vorbereitet, sogar auf die Italiener. Wenn man sich nun - selbstverständlich ebenfalls gründlich - auf die Suche nach dem letzten, bisher noch verborgenen Potenzial dieser Mannschaft macht, dann landet man bei jenen Standardsituationen, mit denen man auch mal ein Spiel, das sich einem verweigert, auf seine Seite zwingen kann. Im Auftaktspiel, beim 2:0 gegen die Ukraine, hat Shkodran Mustafis Kopfballtor nach Toni Kroos' Freistoß noch mal an Brasilien erinnert, aber mit jeder weiteren Spielminute in diesem Turnier haben die deutschen Standards an Überzeugungskraft verloren. Die Tore von Boateng und Draxler gegen die Slowakei fielen zwar irgendwie auch nach Eckbällen, aber der Weg, den der Ball dabei zurücklegte, war viel zu zufällig, um diese Tore ernsthaft "Standardtore" zu nennen. Insider sagen, man habe die Standards deutlich seltener trainiert als noch 2014.

Wie man weiß, hat Hansi Flick damals in Brasilien seine Wette gegen Jogi Löw gewonnen: Er war sicher, dass Standardtore fallen. Flick besteht im Übrigen darauf, dass der Wetteinsatz bis heute nicht eingelöst wurde.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: