Interview:"Es begann im Kopf"

Erst durch Migration wurde der moderne Mensch möglich, sagt Paläoanthropologe Friedemann Schrenk.

Interview von Hubert Filser

SZ: Warum begannen Menschen überhaupt zu wandern?

Friedemann Schrenk: Wir Paläoanthropologen sprechen nicht von Wanderungen, sondern von Expansionen, mit wenigen Kilometern pro Generation. Die Frühmenschen hatten ja kein Ziel, der Weg war das Ziel. Diese Expansionen gehören zum Menschsein. Schon vor sechs Millionen Jahren verließen die Vormenschen den tropischen Regenwald in Afrika und gingen in die Savannen. Sie nutzten einen neuen Lebensraum und entwickelten den aufrechten Gang. Allerdings war das ein langsamer Prozess, erst vor zwei Millionen Jahren verließen sie Afrika.

Sie hätten auch dort bleiben können.

Das stimmt. Aber so ganz fremd war das Wandern den Menschen ja auch nicht. Sie liefen schon mal viele Kilometer, um begehrte Rohstoffe herbeizuschaffen. Wenn die Nahrung knapp wurde, tauschten sie über größere Entfernungen hinweg. Sie zogen saisonal Tieren hinterher, die ja auch wandern. Die zunehmende Bevölkerungsdichte könnte ein Faktor gewesen sein. Aber auch die geistige Entwicklung war wichtig, die Menschen nutzten Werkzeuge und konnten sich so von der Umwelt unabhängiger machen und neue Lebensräume besiedeln. Der Preis dafür war, dass sie immer stärker von ihren Werkzeugen abhängig wurden.

Gab es spezielle Routen?

Ja, viele Wanderungen gingen an den Küsten entlang. Oder sie folgten Flüssen mit ihren angrenzenden Galeriewäldern. In den Wanderkorridoren mussten verschiedene Bedingungen erfüllt sein. Es musste Wasser, Nahrung, Rohstoffe für Werkzeuge und auch Schutz geben, etwa Bäume als Schlafplätze. Später spielten auch strategische Überlegungen eine Rolle. Man wählte Wege, die eine gute Übersicht über die Landschaft erlaubten.

Welche Wege waren es konkret?

Aus Afrika heraus gab es vier mögliche Routen. Die erste führt über Gibraltar mit floßartigen Gefährten über die Meerenge auf die Iberische Halbinsel. Die zweite ging über Inseln nach Süditalien, dort finden sich 1,4 Millionen Jahre alte Werkzeuge, die sicher nicht aus nördlichen Zuwanderungen stammen. Die dritte führte über das heutige Israel und die Levante, und die vierte über die arabische Halbinsel in den Kaukasus und Richtung Südostasien. Das Klima spielte eine entscheidende Rolle dabei, wann solche Korridore für Besiedlungen geeignet waren. Es gab ja große Niederschlagsschwankungen, was einen hohen Einfluss auf die Vegetation hatte. Im Pleistozän änderte es sich vielfach.

Wie viele Menschen wanderten aus?

Es ist schwer abzuschätzen, wie viele Menschen damals auf der Erde lebten. Zu Beginn der Sesshaftigkeit vor 11 500 Jahren waren es rund sieben Millionen Menschen. Wie viele es vor 200 000 Jahren waren, als Homo sapiens entstand, wissen wir nicht. Die Menschen waren wohl in Gruppen von 40 oder 50 Leuten unterwegs, darunter sind sie nicht stabil. Verschiedene Gruppen müssen auch in Verbindung zueinander gewesen sein, sonst hätte es zu schnell Inzucht gegeben.

Gab es in den vergangenen 200 000 Jahren Hochphasen der Migration?

Es gab Wellen, möglicherweise auch in verschiedene Richtungen. Uns interessiert, ob neue und komplexe Werkzeugtechniken dahinter steckten, etwa zusammengesetzte Beile oder Hacken, um Wurzeln und Knollen auszugraben. Sie machten den Umgang mit Ressourcen zunehmend flexibler. Das eröffnete mehr Möglichkeiten.

Brachten neue Lebensräume nicht auch neue Entwicklungen hervor?

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Milchzähne, die in der Grotta del Cavallo im süditalienischen Apulien gefunden wurden, gelten als die ältesten Überreste eines modernen Menschen in Europa. Sie wurden auf ein Alter von 45 000 bis 43 000 Jahre geschätzt.

Ja klar, da gibt es Rückkopplungen. Kultur, Körperbau und geistige Fähigkeiten entwickeln sich ja im Kontakt mit der Umwelt. Es ist auch eine Expansion des Geistes, die den Menschen zum Wandern bringt. Die Gesamtperformance des Menschen bestimmt seine Überlebens- und Zukunftschancen.

Trieb die frühesten Migranten auch Neugier an?

Natürlich ist Neugier wichtig, Menschen wollen immer ihre Umwelt entdecken. Ich bin mir sicher, dass sie meist eine Idee, eine konkrete Strategie hatten, wie sie den neuen Lebensraum erobern wollten.

Gab es so etwas wie Fernweh?

Fernweh entsteht ja durch Vorstellungen, was irgendwo da draußen an einem anderen Ende der Welt passieren könnte. Wenn es schon weltweiten Fernhandel gegeben hätte, wäre das denkbar. Wenn etwa chinesische Perlen oder Tee aus Indien in Westafrika angekommen wären, hätte das die Fantasie angeregt. Vermutlich entstand mit dem Fernhandel das Fernweh.

Aber einen Austausch von Werkzeugen gab es doch, oder?

Ja, Speerspitzen zum Beispiel tauschte man. Oder Schmuck und Farbpigmente. Das begann schon vor rund 150 000 Jahren in Afrika, als Homo sapiens den Kontinent noch nicht verlassen hatte. Da wurde über viele Stationen getauscht. Fernhandel entstand nicht etwa in China oder Europa. Mit dem Fernhandel begann der kulturelle Austausch. Er reicht an den unmittelbaren Anfang von Homo sapiens zurück. Das war sozusagen die erste Expansion moderner Menschen. Expansion beginnt im Kopf. Irgendwann folgte die räumliche Expansion. So gesehen könnte auch das Fernweh in Afrika seine Wurzeln haben.

Interview: Der Paläoanthropologe Friedemann Schrenk ist einer der Leiter des Forschungsprojekts ROCEEH (The Role of Culture in Early Expansion of Humans) der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Der Paläoanthropologe Friedemann Schrenk ist einer der Leiter des Forschungsprojekts ROCEEH (The Role of Culture in Early Expansion of Humans) der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

(Foto: Tim Wegner/laif)

Gab es zwischen den Auswanderern und den Zurückgebliebenen Kontakt?

Handel und Austausch stärkten die Expansion. Mittlerweile ist auch der ständige genetische Austausch nachgewiesen. Auch der kulturelle Austausch zwischen Mensch und Neandertalern ist belegt. Davon lebt unsere Spezies, das war letztlich sogar der Grund, warum unsere Art - und mit ihr unsere kulturelle Modernität - überhaupt entstanden ist.

Das müssen Sie genauer erklären.

Schimpansen leben auch in Gruppen, stellen Werkzeuge her, sie haben eine Art Kultur. Aber der entscheidende Unterschied zu uns Menschen ist: Sie geben diese nur innerhalb ihrer lokalen Gruppe weiter. Der entscheidende Selektionsvorteil der frühen Menschen war, dass sie Errungenschaften über die gesamte Spezies weiter gaben. Es geht um den Austausch von Erfahrungen, die Weitergabe und die Tradierung von Wissen. Das hat uns als Spezies erst hervorgebracht.

Das setzt eine gewisse Offenheit voraus, also etwas, was Migrationsforscher heute als Schlüssel zu einer gelungenen Integration ansehen.

Ja natürlich. Wir können belegen, wie Werkzeugtechniken weitergegeben wurden. Auch Ideen, Gedanken und Erfahrungen begannen zu wandern und passten sich lokalen Gegebenheiten an. Das gibt es bei keiner anderen Art, das ist unser Schlüsselmerkmal: Es ist die Fähigkeit zum Austausch. Daraus entstand die heutige biokulturelle Diversität von Homo sapiens weltweit. Dieser Erfahrungsaustausch funktionierte immer. Aber heute habe ich manchmal das Gefühl, dass er durch zunehmende Abschottung unterbunden werden soll. Das wäre fatal für uns Menschen.

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