Historie der Bürgerbeteiligung:Einfach mitreden

Gernot Brauer, treibende Kraft im Diskussionsforum "Münchner Forum", hat eine Dokumentation vorgelegt, die akribisch nachzeichnet, wie der Bürgerwille die Gestalt der Stadt entscheidend geprägt hat

Von Renate Winkler-Schlang

Bürgergutachten, Workshops, Volksentscheide: Stadtpolitik ist nicht mehr denkbar, ohne die Bürger in den Vierteln zu informieren, einzubinden, nach ihrer Meinung zu befragen. "Die Stadt - das sind die Bürger", sagt Gernot Brauer. Der frühere BMW-Pressesprecher und langjährige ehrenamtliche Redakteur der Publikation "Standpunkte" des "Münchner Forums" hat sein neues Buch so genannt. Bei dessen Vorstellung in den Räumen des Stadtarchivs hielt der frühere Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) die Lob- und Festrede. Ude plauderte launig aus seiner reichhaltigen Erfahrung - zu der auch verlorene Bürgerentscheide zählen, ob Tunnel, Hochhäuser, Olympia oder Dritte Startbahn.

Brauer hatte aber zu der von Nicolette Baumeister moderierten und von der Straßencombo Connexion Balkon begleiteten Veranstaltung auch elf "Paten" gebeten, die in Drei-Minuten-Statements ihre Herzensprojekte vorstellten - vom Kreativquartier bis hin zu Alternativen für die zweite Stammstrecke, vom autofreien Wohnen bis zur Tram durch den Englischen Garten, von Flussbad in der Isar bis zur Agora im Museumsquartier. Natürlich hat Brauer die Gäste beteiligt: Sie verteilten ihre grünen Punkte für die Redner jedoch relativ gleichmäßig.

Sie interessierten sich aber auch für den im Eigenverlag herausgegebenen 336-Seiten-Wälzer mit mehr als 300 Fotos, Plänen, Grafiken und Dokumenten, mit Essays von Professoren, ehemaligen Oberbürgermeistern und von Stadtbaurätin Elisabeth Merk. Brauer ist sicher, dass der Bürgerwille sich in München in beispielhafter Weise Gehör verschaffte, weshalb die Landeshauptstadt auch ein Vorbild sein könne für andere. Aus diesem Grund wartet das Werk auch mit kurzen Stadtvergleichen auf. Dennoch ist es eine zutiefst münchnerische Geschichte, beginnend bei den Anfängen der Münchner Stadtplanung und beim Kurfürsten Carl Theodor, Theodor Fischers Staffelbauplan, den unsäglichen Vorstellungen Hitlers für seine Hauptstadt der Bewegung.

Historie der Bürgerbeteiligung: Gegen den Bau des Europäischen Patentamts an der Erhardtstraße protestierten die Bürger vergebens. Es wurde 1980 eröffnet.

Gegen den Bau des Europäischen Patentamts an der Erhardtstraße protestierten die Bürger vergebens. Es wurde 1980 eröffnet.

(Foto: privat)

Dann, nach dem Ramadama in den Ruinen, stellte sich die Frage: "Wiederaufbau traditionell oder modern?" Wer weiß heute noch, dass zur Wiederherstellung des Marienplatzes 1949 in einer Ausstellung 360 Entwürfe präsentiert wurden? Von den rund 8000 Besuchern stimmten 3300 ab: Die meisten wollten ihn so, wie er vor dem Krieg war. Brauer nimmt die Leser mit in die neue, vom Verkehr geprägte Zeit, beschreibt die Pläne der Verwaltung für die autogerechte Stadt mit Ringstraßen, Stadtautobahnen, Tangenten, die Altstadt dominiert von Kaufhäusern und Büros, die Bewohner vertrieben. Heute unvorstellbar.

Widerstand formierte sich, im "Münchner Bauforum" wurden Alternativen diskutiert. Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) hatte verstanden: Nach den wütenden Debatten zum Bau des überbreiten Altstadtrings erklärte er: "Ich werde nie mehr einen Plan der Verwaltung unterschreiben, der nicht vorher öffentlich diskutiert wurde." Am 4. April 1968 konstituierte das Bauforum auf Betreiben Vogels mit der IHK und der Handwerkskammer, Verlagen und Gewerkschaften und anderen Verbänden das "Münchner Forum" als "Kommunikationszentrum für alle Probleme der Stadtentwicklung und eine Art öffentliches Laboratorium, zur Prüfung von Planungsideen der Stadt oder aus der Mitte der Bürgerschaft". Außerhalb des amtlichen Apparates, gleichwohl aber von ihm finanziell unterstützt.

Für Brauer ist das Forum der Inbegriff der Beteiligung, sein Buch speist sich großteils aus dem Archiv des Stadtplaners, Architekten und Forums-Mitgründers Karl Klühspies, dessen Engagement auch immer wieder erwähnt wird. Im Münchner Forum entstehe Transparenz, in den Arbeitsgruppen würden Themen gesetzt, in Veranstaltungen die Ideen von Bürgerinitiativen aufgegriffen und öffentlich gemacht. Am Münchner Forum komme keiner vorbei, sagt Brauer. Andere Städte hätten versucht, das nachzuahmen - am besten aber gelinge es doch in München.

Historie der Bürgerbeteiligung: Gernot Brauer hat sich früh in die Debatten der Stadtentwicklung eingemischt. Er hat mehrere Bücher publiziert.

Gernot Brauer hat sich früh in die Debatten der Stadtentwicklung eingemischt. Er hat mehrere Bücher publiziert.

(Foto: Barbara Deller-Leppert)

Die "zweite Zerstörung Münchens" hätten die Bürger abgewendet, beweist Brauer. Ob Café Tambosi oder Seidlvilla - ohne Bürgerproteste wären sie längst verloren, wäre der Sendlinger Berg untertunnelt, die Tram ganz aus der Stadt verschwunden, der Leopoldpark nicht mehr da. Nicht gelungen sei es allerdings, den Koloss des Europäischen Patentamtes, für den 33 Wohnhäuser abgerissen wurden, zu verhindern.

Materialreich sind seine Schilderungen des Vergangenen, ausführlich auch die Kapitel über die Bürgerentscheide. Als eine Art Rezept werden dann die Leitsätze des Münchner Forums zur Stadtentwicklung herausgestrichen, doch die lesen sich sehr allgemein wie etwa "Münchens Topgrafie gibt der Stadt Gestalt und Charakter" oder "Die Metropolregion München hat Wachstumschancen". Am Ende gibt der Autor Empfehlungen zur Bürgerbeteiligung wie "bei stadtplanerischen Wettbewerben die Jury mit den Wünschen der Bürger schon zu konfrontieren, noch ehe sie tagt" oder "keine Manipulation durch Scheinpartizipation, bei der Entscheidungen schon getroffen sind".

Doch die Stärke des Buches liegt eher in seinem Materialreichtum und der historischen Kenntnisse, die gerade auch jungen Lesern einen neuen Blick ermöglichen auf ihre Stadt und Dankbarkeit erzeugen für die streitbaren Menschen vergangener Jahrzehnte. Gewünscht hätte man sich mehr Analyse dessen, was heute in der Stadt an Beteiligung möglich ist. So werden etwa die regelmäßigen Bürgerstammtische im Zusammenhang mit dem großen Siedlungsgebiet Nordost gar nicht erwähnt, werden keine Instrumente bewertet, die Chancen und Grenzen der Beteiligung eher am Rande aufgezeigt.

Aber wozu hat man Ude? In seinem Referat schnitt der Alt-OB solche Themen an: So strich er heraus, dass Beteiligung ernst zu nehmen sei, auch wenn das Ergebnis den Oberen nicht passe. Immerhin habe die Diskussion dann ein Ende, seien weitere Zerreißproben unnötig, eine Lösung komme auf den Prüfstand. Fürchten müsse sich keine politische Strömung vor Beteiligung, "denn die Ideologie, dass der Bürger so ist, wie es sich eine politische Kraft vorstellt, ist falsch. Der Bürger kann von niemandem vereinnahmt werden."

Historie der Bürgerbeteiligung: Erst informieren, dann entscheiden: Der Dialog der Verwaltung mit den Bürgern ist in München mittlerweile Standard bei Projekten.

Erst informieren, dann entscheiden: Der Dialog der Verwaltung mit den Bürgern ist in München mittlerweile Standard bei Projekten.

(Foto: privat)

Bestehen bleibe das Problem, dass Bürgerbeteiligung nicht repräsentativ sei: "Es ist nicht d as Volk." In den Bürger-Workshops treffe man nun mal eher Architekten und Lehrer als "Hartzer" und Schichtarbeiter. Entscheiden müssten am Ende immer die Volksvertreter. Und eines müsse auch klar sein, so Ude: Gerade die komplexen Fragen eignen sich nicht für Ja-Nein-Entscheide. Die wichtigste Zukunftsfrage der Stadt sei und bleibe: "Will sie wachsen, wie und zu welchem Preis?"

Das Buch "Die Stadt - das sind die Bürger" kann man im Buchhandel bestellen (ISBN 978-3-00-053472-0) oder beim Autor unter brauerMUC@aol.com. Es kostet 29,80 Euro zuzüglich Versandkosten.

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