Außenansicht:Wider den Kuhhandel

Außenansicht: Thomas König, 54, ist Professor für Politikwissenschaft in Mannheim und befasst sich mit der internationalen und international vergleichenden Politikforschung.

Thomas König, 54, ist Professor für Politikwissenschaft in Mannheim und befasst sich mit der internationalen und international vergleichenden Politikforschung.

(Foto: privat)

Nach dem Brexit brauchen vor allem die EU-Kommission und das Europa-Parlament grundlegende Reformen.

Von Thomas König

Was kann man aus dem Referendum der Briten lernen? Trotz all der Irrungen und Wirrungen, die sich seit dem Votum der Briten, aus der EU auszutreten, offenbaren, dürften vor allem drei Gründe für die Ablehnung der Europäischen Union durch viele Bürger des Königreichs verantwortlich sein. Sie sorgen auch außerhalb Großbritanniens für viel Unruhe und zeigen deshalb den Reformbedarf innerhalb der EU: erstens die unbegrenzte Personen-Freizügigkeit, die schon mit der Osterweiterung für eine beachtliche Migration gesorgt hat. Insbesondere in Ländern, die die Freizügigkeit ohne Übergangsperioden einführten, also in Großbritannien, Irland und Schweden, schlug sich diese EU-Einwanderung nieder.

Zweitens die Politisierung der Rechtsstaatlichkeit. Sie führte dazu, dass sich die Europäische Kommission immer stärker an politischen statt an rechtlichen Überlegungen orientiert, wenn sie kontrolliert, ob die europäischen Verträge und Regeln eingehalten werden. Vor allem die Doppelfunktion der Europäischen Kommission als Agendasetzer und Überwacher von europäischem Recht führt zu erheblichen Verwerfungen.

Und drittens die "Verösterreicherung" des Europäischen Parlaments, in dem große Koalitionen verhindern, dass das Demokratiedefizit der EU verringert wird. Unter dem Eindruck der Ämterverteilung und weniger der Politikgestaltung stärken die-se großen Koalitionen die systemkritischen Kräfte am linken und rechten Rand.

Wenn diese drei Ursachen dafür, dass die Europäische Union abgelehnt wird, nicht angegangen werden, dann kann nur vor einer fortschreitenden Vertiefung der Europäischen Integration gewarnt werden - sei es in Richtung eines Ausbaus der Arbeits- und Sozialsysteme, einer Verteidigungs- oder sogar einer Fiskalunion.

An erster Stelle auf der Reformagenda steht zurzeit die unbegrenzte Freizügigkeit von Personen, die in fast allen Mitgliedstaaten vor allem älteren und bisweilen weniger gebildeten Menschen große Sorgen bereitet. Zwar lässt sich nach wie vor trefflich darüber streiten, ob diese Sorgen auf einem mangelnden Kontakt mit Migranten oder auf der Angst vor Konkurrenten um Arbeitsplätze beruhen. Politisch gefährlich kann diese Situation jedoch werden, wenn der Eindruck entsteht, die zuständigen Organe seien überfordert oder unwillig, sich den Sorgen der Bevölkerung zu widmen. In solchen Situationen besteht die Gefahr, dass die Dynamik der Migration einen Schock erzeugt, der weite Teile der Bevölkerung in große Unsicherheit oder gar Panik versetzt.

Um diese Unsicherheit abzubauen und um Populisten entgegenzutreten, muss die Europäische Union Lösungen anbieten. Kurzfristig ließen sich wieder Übergangsperioden für die unbegrenzte Freizügigkeit von Personen festlegen; viele Mitgliedstaaten hatten sie bereits im Zuge der Osterweiterung angewendet. Dabei dürfte das Handlungssignal an die verunsicherte Bevölkerung wichtiger sein als die effektive Regulierung.

Die Kommissare überwachen die Vertragstreue und schlagen Gesetze vor. Das ist zu viel.

Damit solche Regeln greifen und die Unsicherheit bei den Bürgern abbauen, muss allerdings das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit erhöht werden. Der Europäischen Kommission obliegt es als Hüterin der Verträge zu überwachen, ob die Verträge und und Gesetze eingehalten werden. Sie kann dazu Strafverfahren einleiten. Darüber hinaus hat die Europäische Kommission auch das Monopol, Vorschläge für neue Rechtsvorschriften einzubringen. Diese Doppelfunktion überlastet allerdings die Kommission, die immer mehr bemüht ist, ihre Erfolgsquote zu maximieren und Konflikte mit den Mitgliedstaaten zu vermeiden.

Im Resultat führt das entweder zu mehr Bürokratie, weil der Rat unstrittige Rechtsakte auf die Agenda setzt, die der Ministerrat und das Europäische Parlament nur mit entsprechender Mehrheit widerrufen könnten. Oder die Europäische Kommission verzichtet darauf, Vertragsverletzungsverfahren in strittigen Fällen einzuleiten. Das zeigte sich etwa im Fall des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD). Schröder wollte seinerzeit mit Blick auf die Bundestagswahl 2005 nicht weiter im Bundeshaushalt sparen. Im Zusammenwirken mit Frankreich, Italien und Griechenland gelang es ihm, die Kommission zum Verzicht auf Sanktionen zu bewegen, obwohl Deutschland die Defizitgrenze verletzte. Um solche Entwicklungen aufzuhalten, muss die Agendasetzungs- von der Überwachungsfunktion getrennt werden. So könnte die EU zum Beispiel eine unabhängige Staatsanwaltschaft einsetzen, die dann dafür zuständig wäre, Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Sonst droht ein politisches Spiel zulasten der Rechtssicherheit und Legitimation, bei dem die Kommission versucht, sich über die Unterstützung des Europäischen Parlaments Legitimation zu verschaffen, woraufhin die Regierungen ihre nationalen Parlamente einbeziehen, um ein entsprechendes Gegengewicht aufzubauen.

Das führt zum dritten Reformpunkt, der Verösterreichung des Europäischen Parlaments, das lange Zeit als Hoffnungsträger dafür galt, das Demokratiedefizit zu überwinden. Statt den Menschen eine parlamentarische Kontrolle und Alternativen anzubieten, verständigen sich die beiden großen Fraktionen Europäische Volkspartei und Sozialdemokratische Partei Europas regelmäßig auf die Bildung einer großen Koalition. Dabei kann sich das Parlament nicht darauf hinausreden, es gebe keine Alternative. Was bleibt ist der Eindruck eines Ämterkuhhandels, wie bei der Wahl Jean-Claude Junckers von der Europäischen Volkspartei zum Kommissionspräsidenten, die im Gegenzug den Sozialdemokraten Martin Schulz zum Präsidenten des Parlaments machte. Wenn aber dauerhaft, wie in Österreich, primär Ämter verteilt werden und die Politik unverändert bleibt, dann bleiben am Ende als Alternativen nur die Parteien am linken und rechten Rand übrig. Am Ende könnte dann die Parlamentarisierung der Europäischen Union nicht zum gewünschten Abbau des Demokratiedefizits führen, sondern zum Aufkommen europaskeptischer Parteien beizutragen.

Zwei Optionen für Reformen bieten sich an: Entweder werden dem Parlament regierungsähnliche Funktionen übertragen, die eine große Koalition rechtfertigen. Oder es müssen Maßnahmen gegen große Koalitionen ergriffen werden - zum Beispiel eine Änderung des Wahlrechts und der Organisationsregeln des Europäischen Parlaments. Auf diese Weise ließe sich der Ämterkuhhandel durch bessere Organisationsregeln einschränken, während es eine Änderung des Wahlrechts ermöglichen würde, den Parteienwettbewerb um politische Lösungsalternativen zu stärken.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: