Krankenhäuser:Abfall aus der Apotheke

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(Foto: Catherina Hess)

Unmengen an teurer Medizin landen im Müll, weil sie oft nur wenige Stunden haltbar sind. Offenbar kommt es aber auch vor, dass Patienten abgelaufene Arzneien erhalten.

Von Christina Berndt

Bei Kopfschmerzen gibt Franz Stadler 400 Milligramm Ibuprofen an seine Kunden ab, bei leichten Schmerzen auch mal nur 200. So einfach ist das mit Schmerztabletten. Krebsmedikamente lassen sich aber nicht so leicht dosieren. "Pi mal Daumen geht da nichts", sagt Stadler, dem in Erding zwei der etwa 300 Apotheken in Deutschland gehören, die Zytostatika für Chemotherapien abmischen. Wie viel ein Krebspatient bekommt, muss genau dosiert werden. Nur dann sterben die Tumorzellen, während die gesunden Zellen möglichst unbeschadet überleben. Die richtige Menge errechnet sich aus Körpergewicht und Körpergröße.

Für einen Patienten mit multiplem Myelom müssen es heute 2,5 Milligramm Bortezomib sein, ein durchschnittlicher Wert. Vorsichtig entnimmt Stadler diese Menge aus einer Ampulle. Das Problem nur: Die Ampulle enthält 3,5 Milligramm, andere Größen gibt es nicht. Den Rest kann Stadler nicht mehr gebrauchen, wenn nicht heute noch eine Bestellung für einen weiteren Patienten eingeht. Das Medikament ist nur acht Stunden stabil, so steht es in der zugehörigen Fachinformation.

Ein Milligramm Verwurf, das klingt wenig. Aber mit diesem Milligramm wandern umgerechnet 453 Euro in den Sondermüll. Die Summen der Reste addieren sich zu horrenden Beträgen. Denn die Kombination aus schwierigen Packungsgrößen und kurzen Haltbarkeiten gibt es bei vielen Krebsmedikamenten. Mehr als 85 Prozent aller Zytostatika verfallen binnen 24 Stunden. Mehr als 65 Millionen Euro werden in diesem Jahr voraussichtlich auf diese Weise im wahrsten Sinne des Wortes verbrannt, hat der GKV-Spitzenverband auf Anfrage von NDR und SZ aktuell berechnet - noch einmal zehn Prozent mehr als 2015. Die Kosten für solche Verwürfe würden stetig steigen, sagt GKV-Pressesprecher Florian Lanz.

"Der theoretisch anfallende Verwurf" sei so "am geringsten"

Und der Hauptanteil entfalle auf einige wenige Präparate - ein Viertel der Summe allein auf Bortezomib. Dennoch ist sich der Hersteller Janssen-Cilag keiner Schuld bewusst. Die Packungsgröße sei die richtige, betont die Firma, bezogen auf alle Patienten sei "der theoretisch anfallende Verwurf" so "am geringsten". Das Geld bringen am Ende jedenfalls die Versicherten auf. Denn die Krankenkassen müssen die übrig bleibenden Mengen bezahlen - und zwar jeweils die Krankenversicherung jenes Patienten, der zuletzt eine Portion von dem angebrochenen Krebsmedikament erhalten hat.

Neben der Geldverbrennung entsteht so aber noch ein weiteres Problem: Da für Apotheken die Abrechnung der Verwürfe mit den Krankenkassen schwierig ist und sie oft genug auf der Erstattung sitzen bleiben, verwenden viele Apotheker die angebrochenen Packungen über die angegebene Haltbarkeit hinaus. Nach einer Umfrage durch Rainer Trittler von der Apotheke des Uniklinikums Freiburg aus dem Jahr 2014 halten sich nur acht Prozent der Apotheker streng an die Fachinformation der Hersteller.

"Patienten bekommen damit Medikamente, die eigentlich nicht mehr in Verkehr gebracht werden dürfen", sagt Franz Stadler. "Niemand kann für ihre Sicherheit und Wirksamkeit garantieren." Auch Sylvia Maaß, Inhaberin einer Apotheke in Hannover, betont, wie wichtig es ist, die angebenen Haltbarkeiten zu beachten: "Die Fachinformation dient doch zuallererst dem Patientenschutz", sagt sie. Sonst werde "an der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit" der Medikamente gesägt.

Ein "Beispiel dafür, dass Unternehmen mit den Haltbarkeiten spielen"

Ob die abgelaufenen Medikamente den Patienten gefährlich werden können? Sicher kann das niemand sagen. Auch kommt es schließlich immer mal wieder vor, dass Therapien nicht anschlagen. So ist der Nachweis kaum zu führen, dass im Einzelfall abgelaufene Zytostatika die Ursache sein könnten.

Es ist gut möglich, dass die Mittel deutlich länger haltbar sind als angegeben - so wie man Joghurt nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums noch verzehren kann. Aber bei welchen Medikamenten das der Fall ist und welche ihre Wirkung verlieren, ist in den meisten Fällen unklar. Allerdings geben Firmen unter der Hand schon mal längere Haltbarkeiten an, um sich einen Vorteil gegenüber Konkurrenten zu verschaffen.

Auch international zeigen sich zum Teil erstaunliche Unterschiede: Das Mittel Abraxane zum Beispiel hält nach Herstellerangaben in den USA länger als in Europa. Während Apotheker Anbrüche hierzulande schon nach acht Stunden verwerfen müssen, ist dies in den USA erst nach 24 Stunden der Fall. Der Hersteller Celgene will zu den unterschiedlichen Angaben auf Anfrage "keine Stellung beziehen". Für Franz Stadler ist es ein "Beispiel dafür, dass Unternehmen mit den Haltbarkeiten spielen".

"Europaweit kann man innerhalb der kurzen Haltbarkeitszeiten doch gar nicht liefern"

Dabei verfallen die Medikamente häufig nicht so schnell wie angegeben. Schon seit Jahren pflegt Irene Krämer von der Apotheke der Universitätsmedizin Mainz die "Stabil-Datenbank" zu Arzneimitteln. Die Haltbarkeiten länger auszureizen, sei oft möglich, sagt Krämer. Legal und im Sinne der Patienten sei das aber nicht. Ihr Kollege Tilman Schöning von der Apotheke der Uniklinik Heidelberg fordert deshalb, dass Hersteller schon für die Zulassung ihrer Arzneien deren tatsächliche Haltbarkeit prüfen und diese angeben müssen.

Doch politisch versucht derzeit kaum jemand, etwas zu ändern. Gesundheitspolitiker stellen sich taub, Krankenversicherer gehen der Sache nicht nach. Dabei könnte das Problem sogar noch verschärft werden: Derzeit versuchen mehrere Krankenkassen, darunter AOK-Regionalkassen und die DAK, die Kosten für die teuren Verwürfe zu drücken. Sie haben die Zytostatikazubereitung europaweit ausgeschrieben.

Bislang konnten sich Onkologen aussuchen, wo sie ihre Mittel beziehen. Künftig entscheidet die Krankenkasse des Patienten darüber. Das günstigste Angebot soll den Zuschlag erhalten. "Europaweit kann man innerhalb der kurzen Haltbarkeitszeiten doch gar nicht liefern", sagt Stadler. "Dadurch wird der Preisdruck noch erhöht und der Anreiz, die Zytostatika auch über die Haltbarkeit hinaus zu benutzen."

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