Das politische Buch:Was im Kampf gegen den Terror falsch läuft

Der "Islamische Staat" mordet - und der Westen sucht verzweifelt einen Weg, die Dschihadisten zu stoppen. Militärisch wird das kaum gelingen, warnt die frühere IS-Geisel Nicolas Hénin.

Von Wolfgang Freund

Vom ungarischen Schriftsteller und Auschwitz-Überlebenden Imre Kertész (1929 - 2016, Nobelpreis für Literatur 2002) stammt das Frage-Antwort-Spiel: "Worin besteht der Unterschied zwischen einem Optimisten und einem Pessimisten?" Antwort: "Es gibt keinen, nur hat der Pessimist das bessere historische Gedächtnis."

Ohne Zweifel: Der französische Journalist und Syrien-Fan Nicolas Hénin, Jahrgang 1975, gehört zu jenen Pessimisten mit dem besseren historischen Gedächtnis. Als Geisel des "Islamischen Staates" (Syrien, Juni 2013 bis April 2014) wurde ihm wunderbarerweise nicht wie seinem Schicksals- und Fusskettengenossen James Foley mit dem Küchenmesser der Kopf abgeschlagen, sondern man hat ihn nach fast einem Jahr zusammen mit drei anderen Franzosen wieder freigelassen.

Er rächte sich alsbald an seinen Peinigern mit einem Februar 2015 in Paris erschienenen Buch ("Jihad Academy. Nos erreurs face à l'Etat islamique"), worin weniger von extremen Haft- und auch Folter-Monaten die Rede ist (was eben diese Peiniger als Reklameschrift für ihr Tun gewertet hätten), doch umso mehr von unseren "westlichen", strategisch-taktischen Unfähigkeiten, mit dem Phänomen des IS-Daesh-Unternehmens adäquat umzugehen. Das Buch gibt es nun auch auf Deutsch.

Nicolas Hénin reiht sich somit bei jenen an den Fingern abzählbaren westlichen Autoren ein, die da glauben, der neue islamistische Terrorismus sei so, wie wir derzeit damit umgehen, unbezwingbar. Dieser Diskurs stammt aber nicht von gestern und wurde bereits vor mehr als zehn Jahren von Guillaume Dasquié eingeläutet mit seinem Buch "Al-Qaida vaincra" (Paris 2005). Im Vergleich dazu rollt heute eine regelrechte Tsunami-Welle von IS-Daesh-al-Qaida-etc.-Büchern über uns hinweg, eines "schlauer" als das andere hinsichtlich unserer Besserwisserei, wie den vollbärtig-vermummten islamistischen Bösewichten beizukommen wäre.

Die größten Opferzahlen liegen bei den Bevölkerungen Syriens und des Iraks

Hénin demonstriert in einem sprachlich wie konzeptuell brillant geführten 10-Punkte-Diskurs (auch der deutsche Sprachduktus von Sandra Schmidt ist kongenial), wie sehr wir im Westen falsch liegen mit unserer nahezu ausschließlichen Solidarität mit den hiesigen Opfern des IS-Terrors. Nein, er leugnet deren Existenz nicht, wurde ja zunächst auch selbst eines derselben. Doch die größten Opferzahlen liegen bei den Bevölkerungen Syriens und des Iraks, bei den Menschen, die nicht nur dem IS-Terror ausgesetzt sind, sondern auch den sie angeblich "befreien" wollenden Gegenkräften, den örtlichen aus den eigenen Reihen und ganz besonders den blinden Luftangriffen der Russen wie auch der sogenannten "internationalen" Koalition.

An Iraqi policeman inspects the aftermath scene of a mortar and bombing

Tod und Verderben: Anfang Juli attackierte der IS das schiitische Sayyid-Mohammed-Heiligtum in Balad, nördlich von Bagdad.

(Foto: Ahmad al-Rubaye/AFP)

Nur wenn es den "Koalitionskämpfern", Russen inbegriffen, gelingt, die vom kriegerischen Chaos direkt betroffenen Menschen voll auf ihre Seite zu ziehen, könnte, so Nicolas Hénin, der "Sieg" gelingen.

Von ähnlicher Besorgnis geschüttelt sind die beiden jordanischen Sozialwissenschaftler Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman mit ihrem Buch "IS und al-Qaida. Die Krise der Sunniten und die Rivalität im globalen Dschihad". Auch hier handelt es sich um eine Übersetzung, doch dieses Mal aus dem Arabischen; denn das Original wurde für ein örtliches Publikum (Jordanien und Nachbarländer) geschrieben und in einer Schriftenreihe veröffentlicht, die die in Amman tätige Zweigstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgibt. Stärke und Schwäche der Studie sind damit bereits angesprochen.

Zweifelsohne liegt eine gründliche Untersuchung von zwei Wissenschaftlern vor, die ihren Problemkreis bis in dessen feinste Verästelungen hinein kennen. Sie schrieben aber nicht für westliche Leser, sondern für solche ihres eigenen Kultur- und Sprachkreises. Das spürt der "ausländische" Leser (soziokulturell verstanden) sofort. Er sieht sich mit einer Unsumme von örtlichen Namen und Innereien konfrontiert, die er, selbst bei näherer Kenntnis der zeitgeschichtlichen Nahost-Landschaft, in seinem ganzen Leben noch nie gehört haben mag und deren Einordnung in ein verstehbares Ganzes ihm Schwierigkeiten bereiten dürfte. Und: Die von den Autoren im "Quellenverzeichnis" nachgewiesenen Referenzen sind mehrheitlich Internet-Links, von denen aber in den meisten Fällen gleich gesagt wird, dass sie inzwischen nicht mehr erreichbar seien. Also weshalb zitieren, wenn der Leser nicht an sie herankommt? Das ist frustrierendes Augenpulver.

Die Übersetzung aus dem Arabischen ins Deutsche (Günther Ort) scheint indessen gelungen zu sein, was keine Selbstverständlichkeit ist. Vielleicht hätte der Übersetzer, dem für sein Produkt volle Anerkennung gebührt, hin und wieder gut daran getan, arabische "Schachtelsätze" gelegentlich nicht ähnlich "verschachtelt" auf Deutsch wiederzugeben. Aber so ist das nun einmal mit den Märchen aus 1001 Nacht. Das Original steckt an.

Doch als Ganzes ist diese Übersetzung eine hervorragende Leistung. Man liest einen "deutsch denkenden" Text. Das Buch erklärt präzise, wie sich die einzelnen islamistischen Terrorzweige wie Muslimbrüder (Hamas in Palästina), al-Qaida, al-Nusra und IS-Daesh gebildet und wechselseitig befruchtet haben. Darin liegt seine Stärke.

Man kann nicht ungestraft mit Teheran und Riad/Katar gleichzeitig flirten

Der Leser gewinnt nach Lektüre der beiden Werke eine überraschende Erkenntnis: Die eigentliche Aktionsdynamik hinsichtlich dessen, was gegenwärtig zwischen syrischer Mittelmeerküste und Bagdad geschieht, liegt weder bei den sunnitischen Daesh-IS-Terroristen oder Sonstwie-Dschihadisten (al-Qaida, al-Nusra usw.) noch bei den "gemäßigten" Sunniten der Türkei, Saudi-Arabiens, Katars, Ägyptens oder den westlichen Partnern der sogenannten "Koalition", sondern bei den Schiiten des Iraks, Syriens (dazu wäre auch dessen alawitische Minderheit zu rechnen, die den Kern des Assad-Regimes bildet) sowie des Libanons (Hisbollah), massiv unterstützt durch Iran und Russland.

Der "russische Bär" sitzt seit mehr als einem halben Jahrhundert festgeklammert an der syrischen Mittelmeerküste in den Flotten- und Luftwaffenstützpunkten von Latakia und Tartus. Er wird alles tun, sich diesen Direktzugang zu den warmen Meeren der westlichen Welt zu bewahren und logischerweise jene "Herrscher" in Damaskus bedienen, die ihm diesen Zugang offen halten. Heute ist es das Assad-Regime, morgen kann es ein anderes sein, sofern die Grundvoraussetzung im Sinne Moskaus stimmt: Latakia und Tartus müssen "russisch" bleiben.

Den Iranern, Schiiten par excellence, wiederum ist es gelungen, aus dem Erzfeind Irak zu Zeiten Saddam Husseins eine chasse gardée für eigene Hegemonie-Bestrebungen in der öltreichen Golfregion zu machen, in deren Scheichtümern (Vereinigte Arabische Emirate) beachtliche schiitische Volksgruppen leben. Auf den Punkt gebracht: Im Vorderen Orient sind die Schiiten nicht in der Defensive, sondern auf dem Vormarsch.

Vor allem den Langzeit-Sandkastenstrategen des Westens, eifrig darum bemüht, zu Iran ein neues "partnerschaftliches" Verhältnis aufzubauen, dürfte dieser Sachverhalt einiges Kopfzerbrechen bereiten. Sie geraten vor allem durch ihre voreilige, exportmotivierte Hofierung von Staaten wie Saudi-Arabien und Katar in eine globalstrategische Zwickmühle, vergleichbar einem Versuch der Quadratur des Kreises.

Man kann nicht ungestraft, so wie die Dinge liegen, mit Teheran und Riad/Katar gleichzeitig flirten. Mittel- bis langfristig ist das vielleicht für den Westen aber gar nicht so schlimm, wie es zunächst aussehen mag. Denn der islamische Schiismus besitzt eine Eigenheit, die dem Sunnismus weitgehend abgeht: eine Fähigkeit zu innovatorischen, selbstkritischen Hinterfragungen.

Früher oder später (auch dank einer breit gefächerten iranischen Mittelklasse) wird es eine schiitisch-westliche soziokulturelle Verständigungsebene geben, die mit Blick auf den Sunnismus in weiter Ferne steht, von einem "untypischen" sunnitischen Land wie Tunesien einmal abgesehen. Eine "islamische Reformation" wird wohl schiitischer Färbung sein, oder es wird sie nie geben.

Den Dschihadisten von IS-Daesh, al-Qaida, al-Nusra usw. wäre indessen zuzurufen: "Freunde, ihr sitzt auf dem falschen Dampfer, es ist ein Geisterschiff!"

Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt "Mittelmeerkulturen"). Er lebt in Südfrankreich.

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