Türkei:Wie Erdoğan den Ausnahmezustand nutzt

Erdogan

Im Ausnahmezustand kann der türkische Präsident Erdoğan noch schneller durchregieren.

(Foto: REUTERS)
  • Als Reaktion auf den Putschversuch setzt die türkische Regierung auch die Europäische Menschenrechtskonvention teilweise aus.
  • Der Ausnahmezustand ist ein mächtiges Instrument: Grundrechte können so eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt werden.
  • Jetzt will die Regierung freie Hand bei der Jagd auf ihre Gegner.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Der Ausnahmezustand ist keine zwölf Stunden alt, da zeigt sich schon, wie weit die Folgen reichen. Noch in der Nacht zum Donnerstag, kurz nach dem Beschluss, hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zum Volk gesprochen: "Habt keine Bedenken." Er habe den Ausnahmezustand im Land verhängt, um rasch "alle Elemente entfernen zu können", die in den Putschversuch des Militärs vom vergangenen Freitag verstrickt seien, sagt er. Die Demokratie im Land? - Werde nicht eingeschränkt. Sie werde geschützt.

Am Morgen danach nun wollen ein paar Demonstranten im Istanbuler Stadtteil Avcılar auf die Straße gehen. Es sind Putzmänner. Sie liegen mit ihrem Arbeitgeber, der Stadtteilverwaltung, im Clinch. Es geht um die Arbeitsbedingungen und um ihre Mitgliedschaft in der Gewerkschaft. Jedenfalls hat die Stadtverwaltung 32 Reinigungskräften gekündigt. Seit dem 3. Mai demonstrieren sie dagegen. Jeden Tag bauten sie ihre Zelte auf. Am Donnerstag aber wird ihnen das verboten. Begründung: der Ausnahmezustand.

Das dürfte nur ein kleiner Vorgeschmack sein auf das, was jetzt auf das Land zukommt. Am 24. Juli möchte die größte Oppositionspartei, die säkulare CHP, auf dem Taksim-Platz demonstrieren. Ein "Republik und Demokratie"-Treffen soll es werden. Die CHP wären Präsident Erdoğan und seine alleinregierende Machtmaschine AKP am liebsten los, aber nicht durch einen Militärputsch. In diesem Punkt sind sich die CHPler mit Erdoğan einig. Der lässt schon seit Tagen seine Anhänger auf den großen Plätzen des Landes "Demokratiefeste" feiern. Ob seine Regierung ausgerechnet den symbolträchtigen Taksim den Oppositionellen überlässt? Im Moment sieht es danach aus. Die Demo ist genehmigt. Schon in den nächsten Tagen wird sich zeigen, wie fest sich die Schlinge des Ausnahmezustandes zuzieht.

Die Regierenden verweisen häufig auf Frankreich

Der Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmuş erklärt am Donnerstag, dass die Europäische Menschenrechtskonvention zum Teil ausgesetzt werde. Die Franzosen hätten das auch so gemacht, sagt er dem türkischem Sender NTV. Überhaupt verweisen die Regierenden gerade häufig auf Frankreich, das nach Terrorangriffen ebenfalls ein Land im Ausnahmezustand ist. Nicht dass jemand auf die Idee kommt, in der Türkei würden leichtfertiger als andernorts Grundrechte ausgehebelt. Und in der Türkei geht es nicht nur um die Terrorgefahr, sondern auch um einen versuchten Staatsstreich. Die türkische Verfassung nennt mehrere Gründe, um den Ausnahmezustand ausrufen zu können. Naturkatastrophen, Seuchen, aber auch umstürzlerische Triebe. So steht es in Artikel 120.

Im Ausnahmezustand kann Erdoğan noch schneller durchregieren. Er agiert zwar schon jetzt mit gewaltiger Machtfülle. Unter seinem Vorsitz kann das Kabinett nun aber Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Diese werden zunächst im Amtsblatt veröffentlicht und am selben Tag dem Parlament zur Zustimmung vorgelegt. Dort hat die AKP die Mehrheit. Grundrechte können so eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Der Ausnahmezustand ist ein mächtiges Instrument. Derweil ringt die Opposition mit sich. Die CHP und die pro-kurdische Partei HDP sind entsetzt. Bei der HDP heißt es: Der Putschversuch werde genutzt, um jetzt alle Gegner der Regierung auszuschalten und Freiheiten weiter einzuschränken. Die HDP-Abgeordnete Meral Beştaş merkt in der Parlamentsdebatte an, dass die Regeln für den Ausnahmezustand von den Putschisten des Umsturzes von 1980 stammten. CHP-Fraktionschef Özgür Özel nennt die Verhängung des Ausnahmezustandes einen "zivilen Putsch gegen das Parlament".

Ganz anders die Ultranationalisten von der MHP. Sie sind für den Ausnahmezustand "in diesen dunklen und schwierigen Zeiten". Deren Chef Devlet Bahçeli sieht sich gerade selbst innerparteilichen Putschversuchen ausgesetzt und ist froh über jeden Zustand im Land, der von Kritik an seiner Person ablenkt.

Die Regierung will freie Hand bei der Jagd auf ihre Gegner

Der Erdoğan-Partei AKP dürfte das nur recht sein. Die Regierung will jetzt freie Hand bei der Jagd auf ihre Gegner. Als Drahtzieher für den Putsch, bei dem in der Nacht zu Samstag fast 300 Menschen umkamen, hat sie Fethullah Gülen ausgemacht. Der islamische Prediger und seine gleichnamige Bewegung begleiteten Erdoğan bis ganz nach oben an die Macht. Die Gülen-Bewegung, das war die bildungsbürgerliche Strömung im islamischen AKP-Lager. Leute, die darauf hingearbeitet hatten, einmal wichtige Posten im Staatsapparat zu besetzen. Der wurde seit Atatürks Zeiten von einer säkularen Elite beherrscht.

Ohne Gülens Leute wäre es Erdoğan niemals gelungen, diesen Machtblock aus Justiz, Sicherheitsapparat und Militär von innen heraus aufzubrechen. Selbst Jahre nachdem die AKP 2002 an die Macht gekommen war, arbeitete er noch gegen Erdoğan. Als Gülen und Erdoğan das Militär mehr oder weniger niedergerungen hatten, zeigten sich häufiger Risse in dem Bündnis der beiden Machtmenschen. Erdoğan sah Gefahr in Gülens Netzwerk. Seine Regierung fing 2012 an, dessen Einfluss zurückzudrängen, und entließ die ersten Gülenisten aus seinem Machtzirkel. Als 2013 Staatsanwälte gegen Vertraute Erdoğans Korruptionsermittlungen einleiteten, vermutete der damalige Regierungschef Gülen dahinter. Aus Weggefährten wurden Feinde.

Fast 2000 mutmaßliche Gülen-Anhänger soll die Regierung bis Januar dieses Jahres verhaftet haben, darunter 750 Polizisten. Der Bewegung nahestehende Unternehmen wurden unter Zwangskontrolle gestellt. Gülens Netzwerk erschien geschwächt. Dann aber kam der 15. Juli.

Einer der mutmaßlichen Putschisten, Levent Türkkan, hat sich bis zum Adjutanten des Generalstabschefs hochgedient. Vor Gericht räumte er auch regierungskritischen Medien zufolge ein, mithilfe von Gülens Netzwerk zum Militär gekommen zu sein und für die Organisation zu arbeiten. Seiner Aussage zufolge hörte die Organisation sogar Gespräche im Generalstab mit Hilfe von Wanzen ab. Türkkan gab seine Erkenntnisse an einen "Bruder" weiter. Das war sein Verbindungsmann nach außen. Mehr als 100 von etwa 360 Generälen stehen unter Putschverdacht. Sollte sich das tatsächlich als wahr erweisen, war eine gewaltige Verschwörung im Gang.

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