Schüsse in Einkaufszentrum:Tote bei Anschlag in München

Mindestens neun Menschen sterben, als am Olympia-Einkaufszentrum geschossen wird. Die Polizei spricht von einer "Terrorlage".

Die Münchner Bluttat vom Freitagabend war das Werk eines möglicherweise psychisch kranken Einzeltäters. Davon ist die Polizei überzeugt, 19 Stunden nachdem vor und im beliebten Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) im Nordwesten der bayerischen Landeshauptstadt die ersten Schüsse fielen. Der Täter, der 18-jährige gebürtige Münchner David S., erschoss sich mit seiner eigenen Waffe. Zuvor hatte der Schüler neun Menschen getötet. Die Opfer, viele von ihnen haben wie S. einen Migrationshintergrund, sind fast alle Jugendliche oder Heranwachsende. Laut Münchens Polizeipräsident Hubertus Andrä sind drei der Toten 14 Jahre alt, zwei 15 und jeweils ein Opfer 17, 19 und 20 Jahre alt. Außerdem erschoss der Schüler eine 45-jährige Frau. Einen islamistischen Hintergrund der Tat schließt die Polizei aus. Gleichzeitig verwies Andrä auf Parallelen zum Fall des rechtsradikalen Amokläufers Anders Breivik in Norwegen. Dieser hatte auf den Tag genau vor fünf Jahren in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen, zumeist Jugendliche, ermordet.

Am Samstagmorgen stürmte die Polizei mit Unterstützung der Spezialeinheit GSG 9 die Wohnung der Familie S. im Münchner Stadtteil Maxvorstadt. David S. hatte dort mit seinen Eltern und seinem Bruder gelebt. Nachbarn beschrieben ihn als freundlichen jungen Mann. Im Zimmer des Schülers fand die Kriminalpolizei zahlreiche Hinweise darauf, dass David S. sich intensiv mit dem Thema Amoklauf beschäftigt hatte. Die Beamten stellten einschlägige Zeitungsausschnitte sicher. Außerdem hatte der 18-Jährige das Buch "Amok im Kopf: Warum Schüler töten" von Peter Langman gelesen. Die Auswertung der umfangreichen Computerdateien dauert laut dem Chef des Bayerischen Landeskriminalamts (LKA), Robert Heimberger, noch an. Ein Abschiedsbrief des jungen Mannes wurde bisher nicht entdeckt. Die Familie des mutmaßlichen Amokläufers ist nach Auskunft der Polizei noch nicht vernehmungsfähig. David S. soll wegen einer depressiven Erkrankung in ärztlicher und psychiatrischer Behandlung gewesen sein. Das bestätigte Oberstaatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch. Vor der Bluttat vom Freitag ist David S. zweimal polizeilich in Erscheinung getreten - beide Male jedoch als Opfer. Vor sechs Jahren wurde der damals Zwölfjährige bestohlen, zwei Jahre später war er Opfer einer körperlichen Auseinandersetzung mit drei Personen. Eine politische Motivation für den Amoklauf ist laut Steinkraus-Koch derzeit nicht zu erkennen.

Die Staatsanwaltschaft München I ermittelt auch nach dem Selbstmord des Täters wegen Mordes. Dabei geht es auch um die Frage, wie und von wem der 18-Jährige sich die Pistole für den Amoklauf besorgt hat. Es handelt sich nach Angaben des LKA-Chefs dabei um eine Glock 17, eine halbautomatische Pistole im Kaliber 9 mal 19 Millimeter, deren Seriennummer herausgefeilt war. Je nach Magazin können damit 17 bis 33 Patronen abgefeuert werden. Neben dem toten Amokläufer fand die Polizei am Freitagabend gegen 22.30 Uhr dessen Rucksack. Weil zunächst befürchtet worden war, er könnte Sprengstoff enthalten, wurde der Rucksack unter Sicherheitsmaßnahmen geöffnet. Er enthielt mehr als 300 Schuss Munition.

Die Bluttat begann nach bisherigem Ermittlungsstand gegen 17.40 Uhr in einem dem Einkaufszentrum gegenüber liegenden McDonald's-Schnellrestaurant. Offenbar hatte der Amokläufer bewusst möglichst viele junge Menschen dorthin locken wollen. Die Polizei bestätigte am Samstag Informationen, wonach David S. den Facebook-Account einer dritten Person gehackt und in deren Namen in das Schnellrestaurant eingeladen hatte. Man solle bestellen, was man wolle, schrieb S. dort unter falschem Namen, es solle aber nicht zu teuer sein. Das OEZ ist ein von vielen Münchnern genutztes größeres Einkaufszentrum mit zahlreichen Geschäften. Um 17.52 Uhr gab es die ersten Meldungen von Zeugen über eine Schießerei im dortigen Schnellrestaurant McDonald's. Dann trat David S. auf die Straße, feuerte dort weiter. Ein Video zeigt ihn schwerfällig und schwankend. Ob er bei der Tat unter dem Einfluss von Medikamenten, Alkohol und Drogen stand, konnte die Staatsanwaltschaft auch nach der Obduktion des Toten am Samstagmittag noch nicht sagen. Man müsse erst das toxikologische Gutachten abwarten.

Schießerei in München

Polizisten sichern die Einkaufspassagen in der U-Bahnstation Karlsplatz (Stachus) in München.

(Foto: Andreas Gebert/dpa)

Auch der weitere Ablauf ist noch nicht vollständig geklärt. Im Einkaufszentrum sei nach den ersten Schüssen Panik ausgebrochen, berichten Augenzeugen. Viele Kunden des OEZ rannten offenbar zunächst Richtung Hauptausgang, dem Täter entgegen, kehrten dann wieder um, suchten Schutz in Geschäften. In einem Kaufhaus innerhalb des OEZ-Komplexes harrten knapp hundert Menschen hinter heruntergelassenen Schutzgittern aus. Sie seien vom Geschäftsführer mit Essen und Getränken versorgt worden, die eigentlich für ein Sommerfest der Belegschaft bereitstanden. Kinder durften am Kicker oder mit Plüschtieren aus der Spielwarenabteilung spielen. David S. setzte seinen Amoklauf fort, dem auch im OEZ Menschen zum Opfer fielen. Ein Video zeigt, wie der Amokschütze auf dem Dach des Parkdecks neben dem Einkaufszentrum auftaucht und sich dort ein Wortgefecht mit einem Anwohner liefert. Darin betont der Täter zweimal, dass er Deutscher sei. Am Ende der Szene fallen Schüsse. Zivilbeamte der Polizei entdeckten den Amokläufer und feuerten auf ihn, nach dem Ergebnis der Obduktion jedoch ohne ihn zu treffen. S. starb kurz darauf etwa einen Kilometer vom OEZ entfernt durch einen Schuss aus seiner eigenen Waffe.

In der gesamten Stadt kam es nach der Schießerei zu chaotischen Szenen. Der Hauptbahnhof wurde evakuiert, Züge wurden umgeleitet. Auch das Tollwood-Kulturfestival wurde abgebrochen. Polizisten rannten Augenzeugen zufolge mit schusssicheren Westen und Maschinenpistolen durch die Stadt und forderten die Menschen auf, sich in Sicherheit zu bringen. Gegen 20.35 Uhr wurde das OEZ evakuiert, etwa hundert Menschen wurden von Kriseninterventionsteams betreut. Menschen suchten Schutz, weinten und wirkten hilflos. Viele steckten in der Stadt fest, andere boten ihnen Zuflucht. Die Bahn stellte Übernachtungszüge für Gestrandete bereit. Sogar in die Staatskanzlei flüchteten sich Menschen. Der komplette U-Bahn-Betrieb sowie der Verkehr von Bussen und Trambahnen wurde eingestellt, weil der oder die Täter - zunächst war auch die Polizei von "bis zu drei" Schützen ausgegangen - angeblich in Richtung einer U-Bahn-Station gelaufen waren. Das löste überall in der Stadt die Sorge aus, die Täter könnten in die Nähe gelangt sein. Später wurde auch die S-Bahn-Stammstrecke stillgelegt. Mehrere Hubschrauber kreisten über der Stadt. Die Polizei war mit allen verfügbaren Kräften und Spezialeinheiten und insgesamt rund 2300 Beamten im Einsatz. Beamte aus anderen Bundesländern sowie die Antiterror-Einheit GSG 9 wurden angefordert. Durch die gesamte Stadt fuhren Polizei- und Feuerwehrautos, auch Scharfschützen waren zu sehen. Sogar am kilometerweit vom OEZ entfernten Marienplatz in der Münchner Stadtmitte forderte die Polizei Passanten auf, nach Hause zu gehen. Am viel frequentierten Einkaufszentrum am Stachus gab es einen Großeinsatz. Die Menschen sollten alle Bahnhöfe in der Stadt verlassen und nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Auch öffentliche Plätze sollten gemieden werden, warnte die Polizei. Den ganzen Abend über war die Lage in der Stadt unübersichtlich. Im OEZ wurde ein Spezialeinsatzkommando (SEK) aktiv. Das Areal wurde weiträumig abgesperrt. "Meiden Sie die Umgebung um das #OEZ", twitterte die Polizei. "Bleiben Sie in Ihren Wohnungen. Verlassen Sie die Straße!" Binnen sechs Stunden erreichten 4310 Notrufe die Polizei - so viel wie sonst an vier Tagen. 2300 Beamte aus ganz Südbayern und mehreren Bundesländern und auch aus Österreich waren in der Stadt im Einsatz. Bei einer Ringfahndung wurden die Ausfallstraßen kontrolliert.

Der Amoklauf löste weltweit Entsetzen und viele Solidaritätsbekundungen in den sozialen Medien aus. Mehr als 14.000 Kommentare und Wortmeldungen verzeichnete die Pressestelle des Polizeipräsidiums München. Bund und Land beriefen für Samstag ihre Sicherheitskabinette ein. Bundesinnenminister Thomas de Maizière brach einen USA-Aufenthalt ab. US-Präsident Barack Obama bot Deutschland seine Unterstützung an. Bundespräsident Joachim Gauck sagte: "Der mörderische Angriff in München entsetzt mich zutiefst." Am Samstag nach dem Amoklauf wurden in München zahlreiche geplante Großveranstaltungen abgesagt - unter anderem eine Feuerwerksshow im nur etwa zwei Kilometer vom Tatort entfernten Olympiapark. Am Samstagnachmittag legten Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) und Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) in Begleitung weiterer Landespolitiker einen Kranz im Gedenken an die Opfer vor dem OEZ nieder.

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