Datenanalyse:Intelligent bolzen

Funkchip im Fußballschuh, 70000 Messwerte aus einem Tennismatch: Mit Big-Data-Analysen wollen Informatiker den Zufall im Sport abschaffen. Wie schön, dass ihnen das nicht gelingen wird.

Von Alexander Stirn

Ein Meter und 74 Zentimeter. Der Schweizer Tennisspieler Roger Federer lässt es mächtig krachen, als er vor vier Jahren im Finale des olympischen Tennisturniers von London steht. 1,74 Meter liegen im Durchschnitt zwischen den Stellen, an denen sein Aufschlag im gegnerischen Feld aufspringt. Konkurrent Andy Murray ist nicht so flexibel. Der Brite bringt es lediglich auf eine Streuung von 1,45 Meter.

Vorteil Federer? Mitnichten. Obwohl ein variabler Service - der einzige Schlag im Tennis, der unabhängig vom Gegner erfolgen kann - als großes Plus gilt, gewinnt Murray das Match. Und die Zahlen wissen auch, warum: Bei den entscheidenden Spielsituationen führt Federers variables Aufschlagspiel in nur 25 Prozent der Fälle zu einem direkten Punkt. Sein Gegner peilt bei wichtigen Ballwechseln hingegen stets die äußerste Ecke von Federers Rückhand an - mit einer Erfolgsquote von 38 Prozent. Spiel, Satz, Olympiasieg Murray.

Aufpassen! Die Gegnerin zielt mit ihren Aufschlägen stets auf die Rückhand

Die Werte hat der australische Datenanalyst Damien Saunder ermittelt - indem er 25 Stunden lang jeden Schlag und Ballwechsel vom Video in den Computer übertrug. Vier Jahre später, kurz vor Beginn der Olympischen Spiele von Rio, ist so viel Handarbeit nicht mehr nötig: Beinahe jede Sportart ist heute dem Datenrausch verfallen. Kameras verfolgen die Laufwege von Fußballspielern. Sensoren vermessen die Sprungwürfe von Basketballern. Tablets zeigen Tennistrainern während des Spiels, wo die Stärken und Schwächen ihrer Schützlinge liegen. Selbst im Segeln, Rudern oder Vielseitigkeitsreiten geht ohne Datenanalyse nichts mehr.

Sportwissenschaftler versprechen sich davon, das Training besser planen zu können und die Zahl der Verletzungen zu reduzieren. Sie hoffen auf die fehlende Hundertstelsekunde, den letzten Zentimeter, das entscheidende Tor. Dafür stochern sie in einem riesigen Datenhaufen - auch wenn die wissenschaftliche Aussagekraft solcher Analysen noch unklar ist. Sicher ist nur: Die Daten werden den Sport verändern.

Als der deutsche Tennisstar Angelique Kerber vergangenen Herbst beim Turnier in Stanford routinemäßig ihren Trainer auf den Platz ruft, hat Torben Beltz eine Überraschung im Gepäck: Live-Daten des Spiels, die er mit seinem Tablet analysieren konnte. Die Gegnerin, erklärt Beltz, ziele mit ihren Aufschlägen stets auf die Rückhand. Aufpassen! Kerber gewinnt das Match - und später das Turnier.

Tennis, lange Zeit als verschnarcht abgestempelt, ist auf dem Weg zum Hightech-Sport. Dabei hilft, dass bei größeren Turnieren die Flugbahn des Balls automatisch mit Hochgeschwindigkeitskameras verfolgt wird. Die sogenannte Hawk-Eye-Technik soll eigentlich den Linienrichtern helfen. Nun unterstützt sie die Trainer. Zudem wird jeder Schlag manuell kategorisiert: War es ein Stoppball, ein unbedrängter Fehler oder hatte die Gegnerin keine Chance? Bis zu 70 000 Datenpunkte kommen im Laufe eines Matchs zusammen. Und es sollen noch mehr werden: Die Verantwortlichen denken bereits über den Einsatz von Armbändern oder Schlägern mit Sensoren nach. Die würden dann zeigen, wie und wo eine Spielerin den Ball getroffen hat.

Die Daten landen (mit Ausnahme der Grand-Slam-Turniere und von Olympia) direkt auf den Tablets der Trainer - und liefern dort Antworten: Wo hält sich die Gegnerin hauptsächlich auf? Wohin platziert sie ihre Schläge? Wann streut sie einen Stoppball ein? Aber sieht das geschulte Auge eines Trainers so etwas nicht ohnehin? "Manchmal hat man seinem Gefühl vertraut und dann festgestellt, dass es doch nicht hundertprozentig korrekt war", sagt Beltz. Außerdem können die Grafiken helfen, die Spielerin in den kurzen Besprechungspausen von den Tipps des Trainers zu überzeugen. Autorität durch Daten.

Datenanalyse: Der australische Datenanalyst Damien Saunder hat jeden Schlag des Tennis-Endspiels zwischen Roger Federer und Andy Murray bei den Olympischen Spielen 2012 in den Computer übertragen.

Der australische Datenanalyst Damien Saunder hat jeden Schlag des Tennis-Endspiels zwischen Roger Federer und Andy Murray bei den Olympischen Spielen 2012 in den Computer übertragen.

"Es geht vor allem darum, Muster zu identifizieren, die dem Coach nicht ohne Weiteres auffallen", sagt Stefan Wagner, General Manager für Medien, Sport und Unterhaltung beim Softwareunternehmen SAP, das das Tennis-Tablet entwickelt hat. Wichtig sei es daher gewesen, die Live-Anwendung nicht zu überladen. Zur Vor- und Nachbereitung der Spiele gibt es eine detailliertere Variante. "Der moderne Athlet verlangt nach Daten", sagt Wagner. "Wir machen die Spieler zu Analysten."

Auszeiten, Tablets, Datenstudium. Das Tennis, lange Zeit der einsame Kampf Mann gegen Mann, Frau gegen Frau, verändert sich. SAP will seine Technik einem breiten Publikum bekannt machen, das Damentennis will mehr Spektakel. Man sei, so heißt es, "Teil der Sportunterhaltungsindustrie".

Wenn die Hünen der Los Angeles Lakers, eines der erfolgreichsten Teams der amerikanischen Basketballliga NBA, zum Training antreten, ziehen sie einen Sport-BH an. Auf dem Rücken, zwischen den Schulterblättern, blinkt dann ein grünes Licht - als Hinweis auf einen Sensor in dem für Männer ungewöhnlichen Kleidungsstück. Zwar sind alle 29 Arenen der NBA längst mit Kameras ausgestattet, die sämtliche Bewegungen des Balls und der Spieler registrieren. Für die Feinheiten des extrem dynamischen Sports reichen die Kameras allerdings nicht aus: Wie springt ein Spieler ab? Welche Kräfte wirken bei Zusammenstößen? Und wie stark belastet all das die Muskeln und die Gelenke?

Irgendwann sollen die Algorithmen auch taktische Ratschläge vorgeben

Hier kommt der Sport-BH ins Spiel. Das System, Catapult genannt, verfügt über GPS-Empfänger, Beschleunigungssensoren, Kreiselinstrumente. Es erzeugt bis zu tausend Datenpunkte pro Sekunde. Die Informationen landen in Echtzeit auf den Computern der Betreuer, die daraus die individuelle Belastung jedes Spielers errechnen. Im Fall der Lakers gibt es ein Ampelsystem. Zeigt es Grün, kann weiter gepowert werden. Bei Gelb ist Vorsicht geboten. Bei Rot herrscht akute Verletzungsgefahr.

Gary McCoy, bis Ende 2015 Direktor bei Catapult, vergleicht die Anzeige mit dem Armaturenbrett eines Sportwagens. "Wir haben es hier mit Hochleistungsathleten zu tun", so der Sportwissenschaftler im US-Sender ESPN. "Es fährt schließlich auch niemand einen Formel-1-Wagen ohne Anzeige der Leistungsdaten." Im Gegensatz zu einem Auto haben die Multimillionäre in den kurzen Hosen allerdings Persönlichkeitsrechte. Und sie dürften wenig erfreut sein, wenn ihnen die gesammelten Gesundheitsdaten künftig bei Gehaltsverhandlungen vorgehalten werden - oder wenn Teams die sensiblen Informationen für Verhandlungen auf dem Transfermarkt nutzen.

Noch ist es nicht so weit. Noch sind die Sensoren während eines Spiels sogar verboten. Im Training hingegen sind sie weit verbreitet - nicht nur bei den US-Basketballern, die in Rio ihren dritten Titel in Folge anstreben. In mehr als 30 Sportarten kommt das System zum Einsatz, angefangen beim American Football bis hin zum Feldhockey. In Deutschland sollen unter anderem der FC Bayern München und der SC Freiburg zu den Kunden gehören.

Heatmaps, Laufwege, Packing-Rate. Bei der Fußball-Europameisterschaft konnte sich der Zuschauer an einem Datenfeuerwerk ergötzen - farbenfroh aufbereitet für die Fernsehbildschirme. Sportwissenschaftler sind weniger beeindruckt. "Ballbesitz, Passquoten, zurückgelegte Kilometer, Sprints in einem Spiel: All das erlaubt aus wissenschaftlicher Sicht keinen Rückschluss darauf, wer ein Spiel gewinnen wird", sagt Daniel Memmert, Professor an der Deutschen Sporthochschule in Köln. So lag der FC Bayern München in der vergangenen Saison bei der Laufleistung stets auf den hinteren Plätzen. Trotzdem wurde das Team überlegen Deutscher Meister. Die Sportwissenschaftler suchen daher nach anderen Faktoren, die über Sieg und Niederlage entscheiden. Sie träumen von der Formel für den Torerfolg.

Dazu braucht es vor allem exakte Daten. Bei jedem Bundesligaspiel verfolgen heutzutage mehrere Kameras die Spieler und den Ball. Im Getümmel, zum Beispiel nach Eckbällen, geht die automatische Zuordnung aber schnell verloren. Sie muss manuell korrigiert werden. "Die Live-Daten sind zwar ein guter Richtwert, kein Fitnesscoach würde solche Informationen aber für die Trainingssteuerung verwenden, da sie zu ungenau sind", sagt Jens Urlbauer, Geschäftsführer der Prozone Sports GmbH. Bei dem Datendienstleister übernehmen daher bis zu acht Analysten die Nachbearbeitung jedes Spiels. Sie verfolgen Laufwege und codieren Zweikämpfe, Ballberührungen, Fehlpässe. Etwa 2500 Ereignisse kommen in 90 Minuten zusammen. Gemeinsam mit den Positionen, dem Tempo und der Beschleunigung der Spieler ergeben sich mehr als drei Millionen Datenpunkte.

"Es geht natürlich nicht darum, Unmengen von Daten zu produzieren", sagt Urlbauer. "Es geht vielmehr darum, Unterstützung für den Trainerstab zu liefern." Nicht "Big Data", der aktuelle Hype in der Informatik, stehe im Mittelpunkt, sondern "Smart Data" - schlaue Daten. SAP-Manager Wagner nickt. "Das erste, was wir von unseren Kunden gehört haben, war: Macht uns die Zusammenarbeit mit den Spielern einfacher und effizienter."

Wagner klickt sich durch eine Anwendung namens SAP Sports One. Für jeden Spieler finden sich darin Gesundheitsdaten und Leistungswerte, zudem Sensordaten aus dem Training, in dem Vereine wie die TSG Hoffenheim mit Funkchips in Schuhen, Trikots und Ball experimentieren. Vor allem aber geht es um taktische Informationen. Mit ein paar Klicks lassen sich alle Spielszenen zusammenstellen, in denen der Stürmer des nächsten Gegners zuletzt aufs Tor geschossen hat - als Video und als taktische Ansicht. Der Trainer kann darin herummalen, er kann Abwehrreihen verschieben und freie Räume markieren. Die Spieler erhalten die Infos anschließend auf ihre persönliche App. Dabei soll es aber nicht bleiben - auch wenn niemand offensiv über den nächsten Schritt sprechen will. Er nennt sich "höherwertige Spielintelligenz", eine vornehme Umschreibung für Algorithmen, die nicht nur drohende Verletzungen erkennen, sondern auch Aufstellungen oder taktische Kniffe vorgeben. "Theoretisch wird das irgendwann möglich sein, und daran arbeiten wir auch", sagt Wagner. "Wobei ich der Meinung bin, dass stets der Coach das Sagen haben muss." Prozone-Manager Urlbauer wird deutlicher: "Das Taktische fängt im Kopf des Trainers an und kann durch Algorithmen nur unterstützt werden, nicht umgekehrt. Daten machen keine Weltmeister, und Software auch nicht."

Trotzdem versuchen die Vereine, immer mehr Informationen aus dem Zahlenberg zu ziehen. Manchester City, der neue Verein des bisherigen Bayern-Trainers Pep Guardiola, hat für dieses Wochenende zu einem Hackathon eingeladen. Computerexperten sollen mit biometrischen Daten und bislang unveröffentlichten Spielinformationen neue Anwendungen entwickeln. Es winken bis zu 10 000 Pfund, VIP-Tickets, signierte Trikots.

Auch bei Daniel Memmert laufen die Analyseprogramme. Zwei entscheidende Faktoren hat der Sportwissenschaftler nach Auswertung von mehr als 200 Datensätzen ausgemacht: Raumkontrolle und Pressing-Index. Die Mannschaft, die in den 30 Metern vor dem Tor so steht, dass sie schneller am Ball ist als der Gegner, gewinnt mit hoher Wahrscheinlichkeit. Das Gleiche gilt für das Team, das sich nach einem Ballverlust am schnellsten wieder Richtung Ball bewegt.

Schon während eines Spiels können Trainer diese Daten ermitteln, auch bezogen auf einzelne Spieler. Wird Fußball dadurch nicht berechenbarer, langweiliger? Memmert schüttelt den Kopf. "Kreativität wird eine immer größere Rolle spielen", sagt er. "Die Spieler kennen das gegnerische System so gut, dass es auf das Unerwartete ankommt." Zudem spiele beim Fußball stets der Zufall mit: abgefälschte Schüsse, Torwartfehler, Abseitstore. Vor zehn Jahren hätte die Zufallsquote noch bei 47 Prozent gelegen, heute sind es 40 Prozent, künftig vielleicht 35. "Dennoch wird auch in Zukunft viel Zufall im Fußball stecken", sagt Memmert. "Und das ist auch schön so."

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