ÖPNV:Revolution auf der Straße

Selbstfahrendes Postauto in der Schweiz

Schweizer Premiere: das fahrerlose Postauto auf Jungfernfahrt 2015.

(Foto: Olivier Maire)

Nahverkehr auf Wunsch: Mit der Vernetzung von Bussen, Taxis und Zügen wird künftig kein Fahrgast mehr am Bushäuschen sitzen bleiben müssen.

Von Holger Pauler

Wer mit dem Auto zu einem Termin oder zum Shoppen in die Innenstadt fährt, muss jede Menge Geduld mitbringen. Stop-and-go-Verkehr ist eher die Regel als die Ausnahme: Gut ein Drittel des innerstädtischen Verkehrs in Deutschland entfällt mittlerweile auf die Parkplatzsuche - Tendenz steigend. Um dieser Problematik Herr zu werden, gibt es mittlerweile zahlreiche Lösungsvorschläge, deren Ziel es ist, den individuellen Pkw-Verkehr so unattraktiv zu machen, dass er aus den Innenstädten verschwindet. Dabei gilt: Ohne Apps geht oder besser fährt nichts.

"Durch das Internet, durch Smartphones und Algorithmen können wir mittlerweile den Individual- und Personenverkehr vernetzen", sagt Tom Kirschbaum, Mitgründer und Geschäftsführer der Door2Door GmbH. Um zu verstehen, wie Menschen heute in Städten unterwegs sind und wie Nahverkehr optimiert werden kann, hat das Berliner Unternehmen die Mobilitäts-App Ally entwickelt. Sie navigiert Pendler durch die Stadt und zeigt ihnen die besten Optionen auf - vom Nahverkehr über Carsharing und Uber bis zum klassischen Taxi.

Gleichzeitig wird über die App ausgewertet, wie sich Menschen in den Städten bewegen. "An einem Freitagabend ist die Nachfrage eine andere als am Sonntagmorgen", sagt Kirschbaum. Mithilfe der Daten könne das Angebot permanent optimiert werden. Letztlich stehe die Vision dahinter, dass Leute zur gewünschten Zeit zu Hause abgeholt würden, um sie möglichst schnell und bequem zum Ziel zu bringen. Aktuell ist Ally in mehr als 35 Ländern verfügbar und bereits in 200 Metropolen weltweit im Einsatz. Neben etlichen deutschen Kommunen fragen das Angebot besonders afrikanische und lateinamerikanische Städte nach. Apple zeichnete Ally kürzlich als eine der "Best Apps of 2015" aus.

"Individualverkehr und ÖPNV verschmelzen", sagt Stefan Heimlich, Vorsitzender des Auto Club Europa (ACE). Gemeinsam mit Vertretern aus Industrie und Verbänden hat er im Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Impulspapier zum Thema Mobilität 4.0 vorgelegt. Darin werden auch Aspekte der Digitalisierung thematisiert. "Durch moderne Technologien können wir bisher nicht miteinander verbundene Prozesse verknüpfen und damit neue Angebote schaffen", sagt Heimlich. Für den Kunden müsse die Dienstleistung wie "aus einer Hand" statt wie bisher als Flickenteppich aus vielen Insellösungen wirken, denn: "So wie sich Lebensstile insgesamt ausdifferenzieren, wird auch die Mobilität der Menschen individueller."

Auch die Deutsche-Bahn-Tochter Arriva setzt auf den sogenannten "Demand Responsive Transport". Das nur außerhalb von Deutschland tätige Unternehmen bietet seine Bus- und Bahndienstleistungen in derzeit 14 europäischen Ländern an - darunter Großbritannien, Italien, Polen und die Niederlande. "Wir glauben, dass nachfragebasierte Angebote ein zunehmend wichtiger Baustein für die Mobilität der Zukunft sein werden", sagt Philipp Reth, bei Arriva für Mobilitäts-Innovationen verantwortlich. Mit der Arriva Bus App können Reisende in Großbritannien schon jetzt in Echtzeit verfolgen, wo sich der Bus befindet, in den sie einsteigen wollen. Doch dies ist nur ein erster kleiner Schritt Richtung Zukunft. Mittelfristig möchte auch Arriva, dass die Fahrtzeiten der Busse an die Bedürfnisse der Kunden angepasst werden - und nicht mehr umgekehrt.

Der Fahrplan soll sich an die Wünsche der Gäste anpassen, nicht umgekehrt

Das Unternehmen setzt dabei sowohl auf den ländlichen als auch auf den urbanen Raum - mit unterschiedlichen Konzepten. In weniger dicht besiedelten Regionen geht es darum, Busse, die schon jetzt mangels Nachfrage nur noch wenige Male am Tag fahren, durch den nachfragebasierten Nahverkehr zu ersetzen. "Erste Berechnungen zeigen, dass wir dadurch einen Kundenzuwachs von etwa zehn Prozent generieren und gleichzeitig bis zu zehn Prozent der Kosten einsparen können", sagt Reth.

In den Städten sieht sich Arriva vor allem als Ergänzung zu bestehenden Angeboten. "Wir wollen der bessere Bus sein", sagt Reth. Der digitale Ruf-Bus soll in bestehende Angebote eingebettet werden und mithilfe einer App den Kunden durch die Großstadt steuern und ans Ziel bringen. Hochfrequente Linienzüge wie S- und U-Bahn oder ICE wird Arriva allerdings nicht ersetzen können. Sie seien weiterhin das "Rückgrat des Metropolverkehrs". Zum Jahreswechsel sollen in verschiedenen europäischen Ländern Pilotprojekte starten. "Anders als in Deutschland unterliegt der Personenverkehr in einigen europäischen Märkten einer weniger strikten Regulierung", erklärt Reth.

Door2Door plant ebenfalls, einen eigenen Shuttlebus-Service anzubieten, der auf der App Ally basiert. Der Name: "Allygator Shuttle". Mit ein Grund hierfür war eine Analyse der Mobilität von Taxis am Beispiel Berlins. Die etwa 7500 Fahrzeuge warten in der Hauptstadt demnach im Durchschnitt 90 Minuten auf einen Auftrag. "Allein im Zentrum sind derzeit 2500 Taxis unterwegs, die mehr stehen als fahren", sagt Tom Kirschbaum. Berechnungen hätten ergeben, dass man das gleiche Angebot auch mit 250 Shuttlebussen bewältigen könne - und das sogar schneller und flexibler.

Letztendlich gehe es aber allen Beteiligten darum, ein Betriebssystem für den selbstfahrenden Nahverkehr zu entwickeln, das auf die Bedürfnisse der Kunden reagieren kann, so Kirschbaum. Seine Vision ist es, dass in Zukunft "autonome Fahrzeuge in Echtzeit auf den Bedarf von Pendlern reagieren werden", nach dem Motto: Hier holst du jemanden ab, dort möchte er aussteigen, dies ist die optimale Route durch die Stadt, hier ist die virtuelle Haltestelle. "Dadurch wird Nahverkehr effizienter, spart Zeit, Energie und schont die Umwelt", für Kirschbaum ein Riesenschritt für Städte und Bürger in aller Welt.

Und so unrealistisch ist die Vision nicht. In China ist kürzlich ein fahrerloser Bus des Herstellers Yutong auf die Reise geschickt worden. Der Bus fuhr auch auf Schnellstraßen, passierte dabei 26 Verkehrsampeln, wechselte wiederholt die Fahrspur und überholte auch eigenständig andere Fahrzeuge auf den Straßen. Er legte die 32,6 Kilometer lange Strecke zwischen den Städten Zhengzhou und Kaifeng in der Provinz Henan zurück. Yutong will bereits 2021 mit dem fahrerlosen Bus in Serienproduktion gehen und zielt dabei auch auf den europäischen Markt. Derzeit hat Yutong im Busgeschäft schon einen Weltmarktanteil von zwölf Prozent.

Dass die Technologie funktioniert, zeigt ein Pilotprojekt in der Schweiz. In der Stadt Sion im Kanton Wallis sind seit Juni zwei autonome Postauto-Shuttlebusse im Linienbetrieb. Die elektronisch betriebenen Fahrzeuge des französischen Herstellers Navya verfügen über elf Sitzplätze. Über eine App können Passagiere die Position der Busse abrufen. Die Testphase soll bis zum Herbst 2017 andauern. Sicherheitsbedenken werden von Experten relativiert. Mehr als 90 Prozent der Unfälle mit Verkehrstoten gingen laut Statistischem Bundesamt im vergangenem Jahr auf menschliches Versagen zurück. Diese hohe Zahl hofft man mit moderner Technik senken zu können.

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