Journalismus in Ausnahmesituationen:Wie Medien mit Amokläufen umgehen sollten

Nach Schießerei in München

Wenn es um Suizid geht, sind Medien zurückhaltender geworden. Nicht so bei Amokläufen wie dem in München. Schließlich gibt es in solchen Fällen oft mehrere Opfer.

(Foto: dpa)

Um den Werther-Effekt zu vermeiden, wird über Suizide nur zurückhaltend berichtet. Zwei Kriminologen fordern nun, auch Amokläufer medial ins Leere laufen zu lassen - mit guten Argumenten.

Von Ronen Steinke

In Deutschland ist es eine Romanfigur aus der Sturm-und-Drang-Zeit, Goethes Werther mit seiner unerfüllten Liebe, seinem Hang zu Poesie und am Ende seinem pathetischen Entschluss zum Suizid. In den USA ist es Marilyn Monroe. Als die Schauspielerin sich 1962 in ihrem Schlafzimmer das Leben nahm, stieg die Selbsttötungsrate in Los Angeles für einige Wochen auf das Doppelte an. Große wie kleine Zeitungen hatten berichtet, überaus anschaulich und mit viel Sympathie für die Motive der lebensmüden Diva.

Landesweit gab es in jenem August sogar zweihundert mehr Suizide als sonst - Nachahmer, die viele Journalisten hinterher erschrecken ließen und die an jene Suizidwelle im Europa des Herbsts 1774 erinnerten, als auch Goethes Werther so viele vermeintliche Romantiker zum "Freitod" inspiriert hatte, dass der Briefroman in Italien, Deutschland und Dänemark zeitweise verboten wurde.

"Die mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus"

Der Sammelband "Die mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus - zur medienpsychologischen Wirkung des Journalismus bei exzessiver Gewalt" ist im Springer-Verlag erschienen. Er kostet 29,99 Euro, als eBook 22,99 Euro.

Die Medien sind bei Selbsttötungen zurückhaltender geworden

Seither hat es Selbstkritik der Medien gegeben, vielerorts haben sie sich Zurückhaltung auferlegt, wenn es um Suizide geht, und es gibt auch positive Erfahrungen, die sie darin bestätigen. Als in Wien 1978 die U-Bahn eröffnet wurde, stürzten sich reihenweise Menschen auf die Gleise. Es wurde oft berichtet. 1987 hörten die Journalisten schlagartig auf - und auch die Taten gingen um 80 Prozent zurück.

Müssten Journalisten sich bei Amokläufen nicht genauso zurückhalten, fragen die Kriminologen Frank J. Robertz und Robert Kahr, die an Fachhochschulen der Polizei lehren, in ihrem jüngst (noch vor dem Münchner Amoklauf) erschienenen Sammelband. Parallelen zum öffentlichen Suizid lägen auf der Hand: So ruhmsüchtig, wie jugendliche Amoktäter seien, so begierig darauf, ihr kleines privates Unglück wenigstens einmal auf die große Bühne zu bringen und damit ihre Feinde und Mobber zu beschämen - wäre es da nicht das einzig Verantwortliche, sie medial ins Leere laufen zu lassen? Zumal angesichts von Nachahmungseffekten?

Bei Amok ist es anders als bei Suizid, mag man gleich einwenden, moralisch schwieriger für Berichterstatter. Es geht nicht nur um eine Person, die ihr Schicksal mit sich selbst ausgemacht hat. Das könnte man ja auf sich beruhen lassen und beschweigen. Es gibt Opfer, denen öffentliche Anteilnahme mitunter auch guttut. Es gibt Fragen, denen sich die Sicherheitsbehörden stellen müssen, auch öffentlich. Wenn den beiden Kriminologen trotzdem ein starkes Plädoyer gelingt, dann liegt das an ihrer akribischen Beschreibung einer neu entstandenen Subkultur, einer "virtuellen Peergroup", wie sie es nennen. "Ich weiß, wir werden Anhänger haben", prophezeite einer der beiden Täter des Columbine-Schulmassakers von 1999. "Wir werden eine Revolution lostreten", glaubte der andere.

Wie gemobbte Schüler die Columbine-Tat als Blaupause nutzten

Die Autoren des Sammelbands - unter anderem aus den USA und dem mit Schulamokläufen erfahrenen Finnland - geben zahlreiche Beispiele dafür, wie seither gemobbte Schüler in den USA, Finnland, Deutschland, Australien, Großbritannien und Brasilien die Columbine-Tat als Blaupause genutzt haben. "Offenbar fanden viele der späteren Täter durch die Auseinandersetzung mit den Selbstdarstellungen ihrer Vorgänger eine neue Sinngebung, die ihnen ermöglichte, (. . .) sich als omnipotente Rächer neu zu erfinden."

Beispiel Emsdetten. Der ehemalige Realschüler, der dort 2006 um sich schoss, trug einen schwarzen Trenchcoat, darunter ähnlich bizarre Waffen wie die Columbine-Mörder, er gab sich das Online-Pseudonym "ResistantX", schrieb zuvor in Onlineforen: "Es ist erschreckend, wie ähnlich Eric (einer der beiden Columbine-Täter; Anm. d. Red.) mir war. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich sein Leben noch einmal leben." Was seine Selbstinszenierung anging, zeigte er die Sehnsucht, "durch subkulturelle Anerkennung zu einem recherchierbaren Teil der Geschichte zu werden", schreiben die Kriminologen Robertz und Kahr. In Onlineforen hatte er erklärt, Rache im Namen aller Unterdrückten nehmen zu wollen, ähnlich wie einige School Shooter in den USA und in den beiden darauffolgenden Jahren im finnischen Jokela und Kauhajoki. In einem der Videos, die der Emsdettener hinterließ, erklärte er sich sogar auf Englisch.

"Ich bin keine Kopie von REB, VoDKa, Steini, Gill, Kinkel, Weise oder sonst wem!", schrieb der 18-jährige Emsdettener einmal mit Bezug auf die Pseudonyme vorangegangener Amokläufer. "Ist ein kleiner Dorfpriester nur ein 'Nachahmungstäter' des Papstes? Nein! Natürlich nicht! Er glaubt an dieselbe Sache wie der Papst, aber er macht ihn nicht nach." Auch der 18-jährige Täter des Münchner Amoklaufs vom 22. Juli ist jetzt von Sympathisanten gefeiert worden: "Er hat es getan, er hat es wirklich getan" freute sich ein User der Onlinegruppe "social club misfits gang", die Besucher mit einem Hakenkreuz und den Worten "Willkommen, künftiger Amokläufer" begrüßt. Der Münchner war in mehreren solcher Gruppen gewesen.

Keine Täterporträts zeichnen

Es überrascht nicht, dass potenzielle Nachahmer besonders stark angesprochen werden, wenn sie Gemeinsamkeiten mit früheren Tätern entdecken. Deshalb appellieren die Kriminologen Robertz und Kahr an Journalisten, möglichst keine Porträts der Täter zu zeichnen, die eine Identifikation mit ihnen erleichtern. Vor allem aber geht es ihnen um etwas, das sie "Täter-PR" nennen. Der Schulamokläufer im amerikanischen Blacksburg, Virginia, unterbrach 2007 seine Tat, um ein Paket mit Fotos, Texten und Videos für den Fernsehsender NBC in die Post zu geben. Ein finnischer Täter lud sein "Medienpaket" hoch, zwanzig Minuten bevor er sein erstes Opfer erschoss. 2009 schrieb der Winnenden-Amokläufer über seine Ziele: "Also ich meine nur, man wird noch berühmt und bleibt anderen Menschen im Gedächtnis."

Die beiden Columbine-Attentäter, mit denen diese ganze Welle begann, brachten ihre unzähligen Videos, Fotos und Texte gar nicht zur Post. Die Polizei, die das Material fand, wollte es unter Verschluss halten. Erst eine Klage der Denver Post zwang sie zur Veröffentlichung.

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