Ehrenamtliche Flüchtlingshelfer:Auch Helfer brauchen Hilfe

dpa-Story: Ein Jahr Fl¸chtlingskrise

Was tun, wenn man sich als Helfer allein fühlt - Hilfe suchen.

(Foto: dpa)

Eine chaotische Beerdigung, ein Syrer im Kirchenasyl und Aufgaben, die nicht weniger werden: Die Arbeit in der Flüchtlingshilfe kann auch eine Grenzerfahrung sein. Drei Geschichten.

Von Nadine Funck

Genau ein Jahr ist es her, dass in Deutschland täglich mehrere Tausend Menschen ankamen. Viele aus Syrien oder Afghanistan, oft schon seit Monaten unterwegs und dann herausgespuckt aus vollen Zugwaggons, müde, aber glücklich, endlich an dem Ort angekommen zu sein, der ein besseres Leben versprach.

Genau ein Jahr ist es auch her, dass an deutschen Bahnhöfen, vor allem in München, täglich mehrere Hundert freiwilliger Helfer bereitstanden, um diese Flüchtlinge willkommen zu heißen. Sie versorgten sie mit Wasser, Bananen, Decken, Babywindeln, die Kinder mit Süßigkeiten und Stoffteddys, während Passanten applaudierten. Grenzenlose Hilfsbereitschaft, bewegende Bilder, sogar CNN und das japanische Fernsehen berichteten. München leuchtete.

Helfer und Flüchtlinge beschreiben die Begegnungen als bereichernd. Zwischen ihnen entwickelten sich Freundschaften, neue Familien entstanden - doch nicht selten wurde aus der grenzenlosen Hilfsbereitschaft für die Helfer eine Grenzerfahrung.

Birgid Schnorbusch: Inmitten einer Familientragödie

In Badelatschen und weißem Gewand steht der Priester vor der katholischen Kirche St. Gertrud im Münchner Stadtteil Harthof, als Birgid Schnorbusch ihn abholt. Er spricht kein Wort Deutsch und auch kein Englisch, aber er soll an diesem bitterkalten Apriltag die Beerdigung der kleinen Eden (Name geändert) abhalten, die nur ein Jahr alt wurde. Erfahrung mit einer eritreisch-orthodoxen Beerdigung hat weder Schnorbusch noch der Priester: Er ist nur die Aushilfe, Schnorbusch ehrenamtliche Flüchtlingshelferin. Sie engagiert sich im Helferkreis St. Peter und Paul in Trudering.

Anfang des Jahres hatte sie sich Edens Eltern angenommen. Hochschwanger war die junge Frau mit ihrem Ehemann von Eritrea über das Mittelmeer nach Deutschland geflüchtet und schließlich ins sachsen-anhaltinische Bitterfeld gelangt. Nur wenige Tage später kam Eden zur Welt - schwer krank, ohne ärztliche Hilfe nicht lebensfähig. Die Suche nach einem Spezialisten brachte die jungen Eltern nach München. Die Mutter wurde erneut schwanger und der Helferkreis bot der Familie Asyl.

Schnorbusch fand sich plötzlich inmitten einer Familientragödie wieder. "Ich bin da irgendwie hineingerutscht, weil ich die Familie nicht allein lassen konnte. Ihr Schicksal hat mich mitgenommen", sagt die 52-Jährige rückblickend. "Diese Zeit war eindeutig eine psychische Grenzerfahrung für mich." Sie begleitete die Frau zu Arztterminen, fuhr die Familie mitten in der Nacht ins Hospiz, als man glaubte, Eden würde sterben. Sie begleitete die junge Mutter ins Krankenhaus, als sie ihr zweites Kind bekommen sollte. Sie war für die Familie da, als Eden keine zwölf Stunden nach der Geburt ihres Geschwisterchens starb.

Die Fahrt durch den morgendlichen Berufsverkehr dauert mehr als eine Stunde. Schnorbusch und der Geistliche sprechen kein Wort. Erst kurz vor Beginn der Feier kommen sie am Friedhof in Trudering an. Viele aus dem Stadtteil sind gekommen, um sich von Eden zu verabschieden. Die Sonne scheint, immer wieder fällt Schnee.

Die Beerdigung beginnt chaotisch. Jeder der Anwesenden, auch Schnorbusch, scheint mit der Situation überfordert. Keiner weiß so recht, wie eine eritreisch-orthodoxe Beerdigung in Bayern abzulaufen hat. Plötzlich ist es Schnorbusch, die während der Trauerfeier entscheiden muss, ob der Sarg geöffnet werden soll oder nicht. Der Priester will es so, der eritreische Dolmetscher gibt es dem türkischstämmigen Friedhofsverwalter weiter und dieser wiederum bittet Schnorbusch, zu handeln. Schließlich wird der Sarg geöffnet.

Schnorbusch versucht an diesem traurigen Tag Orientierung zu geben: Als nach der Feier alle zum Grab von Eden laufen, nimmt sie eine Blume in die Hand und wirft sie auf den Sarg. Nach und nach tun es ihr erst Edens Eltern, dann auch einige andere Gäste nach. Schnorbusch nimmt ein wenig Erde und lässt sie ebenfalls auf den Sarg fallen. Die anderen wiederholen die Geste. Als die Feier vorbei ist, fährt sie den Geistlichen wieder zurück. Wieder sprechen sie kein Wort. Bis heute weiß niemand, wie dieser Priester eigentlich hieß.

Rudi Hammer: Zwischen Erschöpfung und Pflichtgefühl

Als Rudi Hammer zum ersten Mal in der Nacht aufwachte und nur schwer wieder einschlafen konnte, dachte er sich noch nichts dabei. Doch irgendwann vergingen immer mehr Nächte, in denen er sich über organisatorische Dinge den Kopf zerbrach: Wie intensiv muss man Flüchtlinge betreuen, ohne, dass sie ihre Selbständigkeit verlieren? Brauchen wir eine Kleiderkammer? Hammer kam nicht zur Ruhe und wusste, dass etwas nicht stimmte.

Im vergangenen Jahr hat er in München-Aubing gemeinsam mit vier weiteren Ehrenamtlichen den Helferkreis Mainaustraße gegründet und übernahm die Verantwortung für einen der großen Arbeitsbereiche - Ressourcen und Organisation. Er erzählt, wie sehr ihn die Flüchtlingshilfe bereicherte - aber auch von der Belastung. Die Arbeit drohte, ihn irgendwann aufzufressen: Öffentlichkeitsarbeit, Finanzen, Mitgliederverwaltung, Kleiderkammer, Behörden- und Arztbegleitungen, Helferkreistreffen, Gespräche mit Sponsoren und Personalprobleme im Helferkreis.

Das Abgeben fällt schwer

Mit zusammengefalteten Händen sitzt der 68-Jährige in seiner Wohnung am Esstisch. Ein Mann, dem Ordnung und Struktur wichtig ist. Hinter ihm steht auf dem Kamin sein Aktenkoffer, darauf fein säuberlich Handy neben Geldbeutel. Vor ihm auf dem Tisch liegt eine Mappe mit Stichworten, die er sich im Voraus notiert hat. Hammer will nichts vergessen, nichts beschönigen, aber auch nichts dramatischer darstellen, als es war.

"Immer öfter hatte ich das Gefühl, ich würde den berühmten Stein des Sisyphos den Berg hinauf rollen", sagt Hammer. Nach Gesprächen mit seiner Frau und auch mit einem Arzt wird ihm bewusst, dass er dieser Belastung nicht mehr länger standhält. Etwas musste sich ändern.

Dieses Eingeständnis aber, an Grenzen zu stoßen, sei in unserer Leistungsgesellschaft besonders schwer, sagt Hammer. Eine Ehrenamtliche in seiner Arbeitsgruppe war schließlich bereit, einige Aufgaben zu übernehmen. Das Loslassen fiel Hammer schwer: "Man hat ja etwas mitgeschaffen, auf das man stolz ist. Das abzugeben, ist nicht so einfach."

Als die große Wanduhr zur vollen Stunde schlägt, blickt Hammer auf seine Armbanduhr und rutscht mit seinem Stuhl ein wenig zurück: Der nächste Termin wartet.

Dirk Wimmer: Anrufe im Urlaub

Kurz vor dem Ende drohte auf einmal alles aufzufliegen: Dirk Wimmer will gerade ins Bett gehen, da klingelt plötzlich sein Handy. Er solle so schnell wie möglich ins Pfarrhaus kommen, es gebe ein großes Problem. Als Wimmer wenige Minuten später vor dem Pfarrhaus eintrifft, kann er schon von weitem die Polizeibeamten sehen und ahnt, was passiert ist. Es gibt Probleme mit Said (Name geändert).

Der 48-Jährige engagiert sich in der Leitung des Helferkreises St. Peter und Paul, seit zwei Jahren arbeitet er in der Flüchtlingshilfe. Er war dabei, als kurz vor Weihnachten im Jahr 2014 etwa 150 Flüchtlinge nach Trudering kamen und in einem leerstehenden Gewerbebau untergebracht wurden. Wimmer hilft auch in einer Unterkunft, in der unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge leben. Er unterstützte eine junge Flüchtlingsfamilie aus Eritrea und nahm sich auch des Syrers Said an. Ihm drohte die Abschiebung, weswegen ihm die Gemeinde für fünf Monate Kirchenasyl gewährt hatte.

Said wurde regelrecht bemuttert. Er bekam von Wimmer und den anderen Helfern alles, was ihm die Zeit verkürzen sollte: Fernseher, Radio, Bücher für den Deutschunterricht. Täglich kamen Helfer vorbei, brachten Lebensmittel, sprachen über seine Rechtslage. Sie spielten gemeinsam Tischtennis, kochten und feierten. Kurz bevor Wimmer an Pfingsten vergangenen Jahres mit seiner Familie in den Urlaub fahren wollte, tat er etwas, das er im Rückblick als Fehler bezeichnet: Er gab Said seine Handynummer.

Wie ein Gefängnis

Während des Urlaubs erhielt Wimmer immer wieder Anrufe und Nachrichten, wie es ihm gehe, wo er bleibe und wann er wiederkomme. Said konnte das Kirchenasyl immer schlechter aushalten. Er wollte draußen herumlaufen, seine Unterkunft kam ihm wie ein Gefängnis vor.

Kurz nach der Rückkehr aus dem Urlaub steht Wimmer nun also mitten in der Nacht vor dem Pfarrhaus und diskutiert mit den Polizeibeamten. Offenbar haben sie von Said erfahren und wollen ihn einer Personenkontrolle unterziehen. Aus Verzweiflung kontaktiert Wimmer eine andere Helferin aus dem Helferkreis. Sie ist Rechtsanwältin, kommt sofort zum Pfarrhaus und kann die Situation klären. Am darauffolgenden Tag spricht Wimmer mit dem Vorgesetzten der beiden Polizisten. Der Beamte entschuldigt sich für das Verhalten seiner beiden Kollegen.

Said darf dank dem Kirchenasyl bleiben. Heute arbeitet er in München als Klimaanlagentechniker in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis.

Helfer müssen sich helfen lassen

Die Erfahrungen von Birgid Schnorbusch, Dirk Wimmer und Rudi Hammer haben auch viele andere Menschen im vergangenen Jahr gemacht. Zwischenzeitlich haben sich neun Millionen Deutsche im Bereich der Flüchtlingshilfe engagiert. Es sind Menschen, die vor lauter Pflichtbewusstsein auch mal sich selbst vergessen, denen es schwer fällt, den Geflüchteten, die Schlimmes durchgemacht haben, auch Grenzen zu setzen. Helfer brauchen mittlerweile häufig selbst Hilfe und finden sie beispielsweise bei der Sozialpädagogin Diana Eichmüller. Sie hat fünf Seminare entwickelt. Eines trägt den Titel "Grenzenlos" und wird am häufigsten gebucht.

"Vielen Helfern, die zu mir kommen, erzähle ich nichts Neues. Sie haben sich bereits im Voraus gut informiert und wissen, worauf sie sich einlassen. Das umzusetzen, fällt ihnen jedoch schwer", sagt Eichmüller.

Oft sind die Strukturen in Hilfsorganisationen ein Problem. Wenn diese nicht klar vorgegeben sind, bürden sich die Ehrenamtlichen Aufgaben auf, die eigentlich nicht in ihren Bereich fallen, aber dennoch von irgendjemandem übernommen werden müssen. Oft vergessen die Ehrenamtlichen, dass sie eigentlich die Funktion eines Lotsen übernommen haben. "Auch wenn sich die Helfer manchmal als Familie der Flüchtlinge verstehen, sind sie eigentlich nur die Personen, die den Flüchtlingen einen Schubs ins Leben geben sollen", sagt Eichmüller.

Therapeutische Hilfe ist keine persönliche Bankrotterklärung

Die systemische Therapeutin Katharina Schellenberg, die bei der Caritas Ansprechpartnerin für Ehrenamtliche ist, sieht eine viel grundlegendere Problematik: "Schwierig an ehrenamtlicher Arbeit ist, wenn sie von außen nicht begrenzt ist, wie zum Beispiel in einem klassischen Arbeitnehmerverhältnis." Persönliche und strukturelle Grenzen im Auge zu behalten, bleibt die größte Herausforderung.

Selbstreflexion ist außerdem ein wichtiger Stichpunkt: "Betroffene sollten sich immer auf die Suche nach ihrem inneren Antreiber machen. Glaubenssätze wie 'Nur wer was leistet, ist auch etwas wert' sollten sie enttarnen und entmachten", sagt Schellenberg. Der Therapeutin zufolge werde es immer noch als Bankrotterklärung gesehen, wenn man sich Hilfe sucht. Auch wenn sich die Gesellschaft dem langsam öffne.

Doch auch Helfer dürfen Hilfe in Anspruch nehmen. Sie müssen es sogar, betont Diana Eichmüller. "Ich ermutige die Helferkreise immer wieder, Geld von den Spendengeldern in die Hand zu nehmen, um sich Betreuer zu holen." Denn die Helfer seien ein Geschenk für die Flüchtlinge. Wenn die Helfer wegbrechen, weil sie selbst keine Hilfe in Anspruch nehmen wollen oder können, würde für die Flüchtlinge ein wichtiger Teil ihres Lebens, ihres Ankommens und ihrer Integration hier in Deutschland wegfallen.

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