Christentum:Das Abendland wird christlich bleiben

Heilige Christnacht im Dom Magdeburg

Heilige Nacht im Dom Magdeburg: Nur an Weihnachten sind die Kirchen noch voll.

(Foto: dpa)

Christen werden zur Minderheit in Deutschland. Doch die Kirchen bleiben die wichtigsten Träger der Zivilgesellschaft und auch des kulturellen Erbes im Land.

Von Matthias Drobinski

Es müsste den christlichen Kirchen eigentlich gutgehen in Deutschland, in ganz Westeuropa. Die Katholiken können sich über einen Papst Franziskus freuen, dem die Herzen zufliegen, weit über seine Kirche hinaus, bescheiden, väterlich und kapitalismuskritisch, wie er ist. Die Protestanten stehen vorm großen Reformationsjubiläum, das am 31. Oktober losgeht; es wird viel öffentliche Aufmerksamkeit bringen und die Erkenntnis, dass es insgesamt doch sehr gut war, dass es die Reformation gab und nun die evangelische Kirche gibt. In der Flüchtlingskrise haben sich beide Kirchen als Anwälte der Heimatlosen und Schwachen profiliert, ihre Sozialarbeit wird geschätzt. Und jetzt, wo so heftig über den Islam und seine künftige Rolle im Land debattiert wird, müsste doch eigentlich die Besinnung auf ihre christlichen Wurzeln viele dazu bringen, dass sie mal wieder in die Kirche gehen und sich sagen: Hier ist es gut, hier mache ich mit.

Solche Leute gibt es, der Trend geht aber woanders hin. Im vergangenen Jahr sind 182 000 Menschen aus der katholischen und 210 000 aus der evangelischen Kirche ausgetreten. 2014 haben sogar fast eine halbe Million Menschen den beiden großen Kirchen den Rücken gekehrt; viele offenbar, weil ein neues Einzugsverfahren bei der Abgeltungssteuer die zugleich fällige Kirchensteuer automatisch einbehielt.

1990, im Jahr der deutschen Wiedervereinigung, hatte die katholische Kirche 28,5 Millionen Mitglieder, die evangelische 29,4 Millionen. 2015 gab es noch 23,8 Millionen Katholiken und 22,3 Millionen Protestanten - der demografische Wandel, die Austritte, die Traditionsabbrüche haben die Kirchen innerhalb einer Generation zwölf Millionen Mitglieder gekostet.

Die Zahl der kirchlichen Beerdigungen übersteigt die Zahl der Taufen

Noch dramatischer sieht die Lage aus, wenn man den inneren Raum der Kirchen betrachtet. Nur noch 58 Männer ließen sich im vergangenen Jahr in Deutschland zum katholischen Priester weihen; 1990 waren es noch 295. Weil der Zölibat abschreckt und Frauen sowieso nicht dürfen? Die evangelische Kirche hat auch ohne Zölibat und mit den Frauen Nachwuchssorgen: Die Landeskirche von Kurhessen-Waldeck zahlt mittlerweile Pfarramtsstudenten ein monatliches Stipendium von 500 Euro.

Die Zahl der kirchlichen Beerdigungen übersteigt in beiden Kirchen die Zahl der Taufen, die Zahl der Trauungen hat sich seit 1990 mehr als halbiert. Das Glaubenswissen nimmt ab, ein guter Teil der Christen glaubt an die Reinkarnation, und viele wissen nicht mehr, ob sie sich an sieben oder zehn Gebote halten sollten.

Die Kirchenmitgliedschaft wird zum Gegenstand der Kosten-Nutzen-Analyse

Was da passiert, kann man so zusammenfassen: Die Säkularisierungsprozesse in Deutschland gehen weiter, unabhängig davon, wie viele Menschen hierzulande den Papst bewundern oder das Reformationsgedenken gut finden. Vor zehn Jahren startete die evangelische Kirche in Deutschland unter dem Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber einen umfassenden Reformprozess; tatsächlich tritt die Kirche seitdem selbstbewusster in die Öffentlichkeit, Mitglieder verloren hat sie trotzdem.

Vor zehn Jahren tourte auch der 2005 zum Papst gewählte Benedikt XVI. durch seine Heimat Bayern, Hunderttausende jubelten ihm zu, und mancher Autor, Feuilletonist und Soziologe sprach von der "Wiederkehr des Religiösen". Doch trotz der vielen klugen Texte füllten sich die Kirchen nicht. Der Osten Deutschlands ist inzwischen nach Tschechien die am stärksten säkularisierte Region Europas, obwohl es dort ohne mutige Christen 1989 keine friedliche Revolution gegeben hätte.

Das bisschen Glauben, das ich brauche, mache ich mir selber

Die Bindungskräfte an die großen Kirchen haben nachgelassen, analysiert der Religionssoziologe Detlef Pollack von der Universität Münster, "das Verhältnis ist lau geworden. Man versteht sich irgendwie als Christ, hat aber auch kein leidenschaftliches Verhältnis zum Glauben mehr." Pollack hat Ausgetretene befragen lassen und festgestellt: Die meisten sind keine Kirchenfeinde, sie werden auch selten zu engagierten Atheisten, Humanisten, Buddhisten oder Esoterikern. Ihnen ist der Glaube einfach weniger wichtig geworden, verglichen mit den innerweltlichen Sinn- und Erfüllungsangeboten wie Familie, Partnerschaft, Beruf, Freizeit, Sport oder Hobbys.

Die Kirchenmitgliedschaft wird für viele zum Gegenstand der Kosten-Nutzen-Analyse: Lohnt sich das für mich? Kommt dann ein Skandal daher oder einfach nur eine Änderung im Lohnsteuergesetz, sagen sich jedesmal viele Mitglieder: Es lohnt sich nicht mehr. Das bisschen Glauben, das ich brauche, mache ich mir selber. Die sozialen Kosten für den Austritt sind inzwischen meist niedrig, vor allem dort, wo eine Mehrheit sagt: Ich glaube nichts - und mir fehlt nichts.

Dieser Prozess hat, mal mehr und mal weniger stark, ganz Westeuropa und inzwischen auch die Vereinigten Staaten erfasst; in Ländern wie Frankreich oder Irland ist die Zahl derjenigen, die sich als religiös bezeichnen, innerhalb von sieben Jahren um mehr als 20 Prozentpunkte zurückgegangen. Und doch verläuft dieser Prozess nicht linear, er ist komplex und auch widersprüchlich. Es gibt Regionen mit nach wie vor hoher Kirchenbindung wie die Gegend um Passau oder das Münsterland. Es gibt Gegenden in Ostdeutschland, in denen nur noch jeder Zehnte Mitglied einer Kirche ist - oft Regionen, in denen die Säkularisierung schon mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begann; 40 Jahre DDR haben den Prozess beschleunigt.

Es löst sich zudem die Religiosität zumindest teilweise von der Kirchenzugehörigkeit. Es gibt das faktisch nichtgläubige Paar, das nur deshalb kirchlich heiratet, damit die Großeltern zufrieden sind; und es gibt den Ausgetretenen, der irgendwie doch an Gott glaubt und täglich betet.

Für das Verschwinden der Religion aus Deutschland spricht wenig

Das ist anders, als die Soziologen lange dachten, nämlich dass in modernen Gesellschaften der Glaube quasi von allein verschwindet, erst bei den Gebildeten in den Städten, zuletzt bei den Hinterwäldlern auf dem Land. Das Stadt-Land-Gefälle gibt es, doch die Religiosität ist vor allem bei den Armen und weniger Gebildeten verschwunden. Bei den besser Ausgebildeten, Etablierten, aber auch bei Postmaterialisten ist sie dagegen überdurchschnittlich stabil - bis zu dem Punkt, dass die Kirchenmitgliedschaft als Ausweis ordentlicher Bürgerlichkeit gilt.

Der Wandel der Glaubenslandschaft hat zudem viele Bücher und Artikel und einige heftige öffentliche Debatten über das Phänomen hervorgebracht, von der Beschneidungsdebatte über die Zukunft des Staat-Religionen-Verhältnisses bis hin zur Frage, ob mit dem Rückgang des Religiösen eine Befreiung einhergeht oder nicht doch ein Verlust an Identität, Bindung und Zivilgesellschaft. Kirchenaustritte hin oder her: Religion bewegt die Gemüter - auch, weil die zunehmend indifferente Mehrheitsgesellschaft mit einer hochgradig religiösen muslimischen Minderheit konfrontiert ist.

Ohnehin stellen die Forscher zunehmend die Vorstellung infrage, dass es einst ein - je nach Perspektive - goldenes oder schwarzes Zeitalter allgemeiner Religiosität gab, das früher oder später in einem goldenen oder eben finsteren Zeitalter der Säkularität enden wird. Waren die Leute zu Martin Luthers Zeiten tatsächlich frommer, als viele ungebildete Pfarrer das Vaterunser nicht aufsagen konnten und der Aberglaube blühte? Wie säkular waren schon im 19. Jahrhundert die Industriearbeiter? Und war die Hinwendung zur Religion nach dem Schrecken der Naziherrschaft und des Weltkriegs in Europa nicht vielmehr eine historische Ausnahme? Dann wäre die Säkularisierung auch eine Normalisierung und Entwicklung hin zu einer aufgeklärten und modernen Religiosität: Wem Glaube und Kirchenmitgliedschaft nicht wichtig sind, der geht irgendwann. Und wem es wichtig ist, der bleibt bewusst und aus Überzeugung in der Kirche.

Selbst wenn die Hälfte ohne Konfession ist: Das Abendland wird christlich bleiben

Es spricht also wenig für das Verschwinden der Religion aus Deutschland und Europa und viel dafür, dass derzeit Religiosität und Säkularität ein neues Verhältnis suchen. Wohin das führen wird, ist schwer zu sagen. Mit einiger Sicherheit werden die Christen in der nächsten Generation nicht mehr die Mehrheit sein im Land; man wird sich daran gewöhnen müssen, dass Kirchen verkauft, umgewidmet oder abgerissen werden.

Mit großer Sicherheit aber werden die christlichen Kirchen die mit Abstand größten Institutionen jenseits des Staates bleiben, die wichtigsten Träger der Zivilgesellschaft und auch des kulturellen Erbes im Land. Es wird also auch das Abendland christlich bleiben, selbst wenn die Hälfte seiner Bewohner konfessionslos sein sollte und jeder zehnte ein Muslim: Die Denkweisen und Deutungshorizonte sind derart abendländisch und christlich geprägt, dass selbst die weitgehend konfessionsfreie Pegida-Bewegung aus Dresden sich der Rettung jenes christlichen Abendlandes verschrieben hat, von dem sie selbst keine Ahnung mehr hat.

Nur wird es anders christlich sein, als man es heute kennt: vielfältiger, weniger stabil, sicher auch konfliktreicher. Für den Staat und die Politik wird das heißen, ein neues Verhältnis zu den Religionen zu finden. Für die Kirchen wird es heißen, dass immer weniger ihre institutionelle Macht zählt, sondern das, was sie sagt, wie sie auftritt, wie glaubwürdig die Christen sind, die sie vereinen. Was ja nicht das Schlechteste wäre.

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