Türkische Chronik (III):Gewalttätige Eskalation gegen unsere Freiheit

Türkische Chronik (III): Proteste in Istanbul gegen die Schließung der prokurdischen Zeitung Özgür Gündem (zu Deutsch: Freie Agenda). Auf dem Banner steht: "Die freie Presse kann nicht zum Schweigen gebracht werden."

Proteste in Istanbul gegen die Schließung der prokurdischen Zeitung Özgür Gündem (zu Deutsch: Freie Agenda). Auf dem Banner steht: "Die freie Presse kann nicht zum Schweigen gebracht werden."

(Foto: AFP)

Wie bei vielen Kollegen dringt die Polizei auch in die Wohnung unseres türkischen Gastautors ein, sagt etwas von Haftbefehl. Er ist in Sicherheit - hatte er doch schon gespürt, dass so etwas kommen würde.

Von Yavuz Baydar

Im Koran gibt es eine Parabel: "Jede Seele wird den Tod kosten", heißt es in einer Sure. Auf die Situation in der Türkei bezogen heißt das: "Jeder einzelne integere Journalist wird zensiert und gefeuert. Als Extra gibt es noch einen Prozess und Gefängnis obendrauf."

Am Dienstag war ich dran. Wenigstens hat das lange Warten und Bangen nun ein Ende. In aller Herrgottsfrühe erhielt ich eine Nachricht von unserem Pförtner in Istanbul: "Herr Yavuz, die Polizei ist in Ihre Wohnung eingedrungen. Nichts wurde beschädigt oder mitgenommen, sie sagten aber etwas von einem Haftbefehl gegen Sie."

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge. Deutsch von Jonathan Horstmann.

Ich befand mich im Ausland, im selbst auferlegten Exil - in Sicherheit. Ich rief meine Frau an, die sich an der ägäischen Küste aufhielt. Man kann sich vorstellen, wie entsetzt sie über die Verletzung unserer Privatsphäre war.

Mich überraschte das nicht. Ich hatte schon gespürt, dass ich wie viele meiner Kollegen ins Visier genommen werden würde. Mir war klar, dass der vereitelte Putschversuch der Todesstoß für den verbliebenen ernsthaften Journalismus in der Türkei sein würde.

Die gewalttätige Eskalation gegen unsere Freiheit und Vielfalt hatte sich angekündigt. Die Polizei hatte vor ein paar Tagen 24 kurdische Kollegen verhaftet. 36 Mitarbeiter des Staatsfernsehens TRT wurden ebenfalls ins Gefängnis gebracht.

Ironie der Geschichte: Zwei Jahre Haft für linke Gesinnung

Gerade erhalte ich eine Nachricht von einem Freund: Necmiye Alpay, eine bekannte Linguistin, Literaturkritikerin und Autorin wurde am Mittwoch verhaftet. Die Vorwürfe? Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, also der PKK.

Necmiye war Beraterin der prokurdischen Tageszeitung Özgür Gündem. Sie hatte gegen deren Schließung protestiert. Ironie der Geschichte: Sie saß schon nach dem Militärputsch von 1980 zwei Jahre für ihre linke Gesinnung in Haft.

Auch Murat Aksoy wurde festgenommen. Er ist Zeitungs- und Fernsehjournalist, hat einen sozialdemokratischen Hintergrund und leugnete nie seine alevitischen Wurzeln. Kürzlich war er zum Presseberater des Vorsitzenden der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, ernannt worden.

Die europäischen Politiker lassen uns im Stich

Auch das Haus von Ali Yurttagül wurde durchsucht. Er war wie ich Kolumnist für die englischsprachige Zeitung Today's Zaman, bevor diese geschlossen wurde. Er war jahrzehntelang Berater für das Europaparlament.

Welche Wahl hatten wir denn? Die europäischen Politiker lassen uns im Stich, werden immer blinder für die Werte, die die EU stabilisieren und vereinen sollten. Wir wissen, dass wir schon lange allein sind, eine vom Aussterben bedrohte Art.

Jegliche journalistische Integrität soll getilgt werden

Warum das alles? Alle Bemühungen meines Anwalts, herauszufinden, was mir vorgeworfen wird, blieben erfolglos. Alle Akten über die Durchsuchungen sind streng geheim. Jedem klar denkenden Menschen muss das merkwürdig vorkommen. Aber schon seit den Protesten im Gezi-Park kennen wir die zerstörerische Taktik, die gegen Journalisten angewendet wird.

Die türkische Regierung will unbedingt gegen, wie sie sie nennt, Staatsfeinde vorgehen. So kann die Gesellschaft in Alarmbereitschaft gehalten werden, abhängig von den Oberen. Die verlassen sich auf den dauerhaften Ausnahmezustand, der jeden Tag neu ausgerufen wird.

Kritische Medien gelten als Gülen-Anhänger und werden gebrandmarkt, ebenso die kurdischen Medien, weil sie angeblich die PKK unterstützen. Jegliche journalistische Integrität soll getilgt werden. Kürzlich hat der türkische Sicherheitsrat den Gülen-Anhängern und den Kurden den Krieg erklärt, und er will sich besonders auf ihre Medien konzentrieren.

Die Logik ist einfach: Es geht nicht darum, was man berichtet oder kommentiert, sondern nur darum, für welche Medien man arbeitet. Wenn man Erdoğans Politik kritisch hinterfragt, ist man automatisch Persona non grata. Man mag entlassen worden sein, aber wenn man weiter auf unabhängigem Journalismus besteht, führt der Weg direkt vor Gericht oder ins Gefängnis.

Ironischerweise wird dem Westen vorgemacht, diese Tortur geschehe als Folge des blutigen Putschversuchs, im Namen der gefeierten Demokratie. Es ist paradox, dass die Unterdrückung weiter eskaliert und wir gleichzeitig glauben sollen, der Wille des Volks habe die Putschisten niedergerungen.

Ohne Abfindung entlassen

Das ist eine Carte blanche, das verfassungsmäßige Recht auf unabhängige Berichterstattung und das öffentliche Recht auf Information auszuradieren.

Es ist schwer, als Medienschaffender nicht zu verzweifeln. Was kann ich meinen Kollegen sagen? Mein eigenes Schicksal belastet mich genug. Ich habe lange für einen Medien-Ombudsmann gearbeitet. Meine kritischen Kolumnen wurden während der Gezi-Proteste zweimal zensiert - unter anderem, weil ich es für unangemessen hielt, dass das Regierungssprachrohr Sabah die internationalen Medien verdammte. Als ich aufdeckte, dass der Inhaber des Mediums führend an der Verleumdung beteiligt war, wurde ich ohne Abfindung entlassen.

Als freier Journalist gründete ich 2013 die Plattform P 24 für unabhängigen Journalismus, um Projekte zu entwickeln und arbeitslosen Kollegen zu helfen. Seit 2014 wurde eine Zeitung nach der anderen geschlossen.

Alles, was ich kann, ist schreiben und aufklären

Je mehr man über Machtmissbrauch, den Umgang mit Syrien und Korruption berichtete, desto unsicherer wurde das Feld. Diesen Sommer wurde klar, dass es keine Stellen für freiheitlich denkende Journalisten mehr gibt. Nach den aktuellen Festnahmen sind 150 Kollegen im Gefängnis. Würden sie alle morgen durch ein Wunder entlassen, dürfte dennoch keiner von uns seinen Beruf ausüben.

Ich bin sprachlos und wie betäubt. Es schmerzt, dass ich ins Exil gedrängt werde, getrennt von meinem geliebten und geschundenen Land. Alles, was ich kann, ist schreiben und aufklären. Das werde ich weiterhin tun.

Türkisches Tagebuch
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: