Integrationshilfe für Einheimische:Entspannt euch, Deutsche!

Flüchtlinge lernen an Bauhaus-Uni Deutsch

Die 19-jährige Nahla Ajainy und ihr jüngerer Bruder Mustafa aus Aleppo Anfang 2016 in der Bauhaus-Universität in Weimar. Die beiden jungen Syrer hatten zuvor das Zertifikat für die erfolgreiche Teilnahme an einem Sprachkurs erhalten.

(Foto: dpa)

Kristin Helberg erklärt die "Syrer bei uns" - und warum das zentrale Problem nicht der Islam ist. Dieser Blick einer Deutschen, der zugleich ein Blick von außen ist, tut der Debatte gut.

Rezension von Paul Munzinger

Wie lässt sich das Zusammenleben von Deutschen und Hunderttausenden Flüchtlingen organisieren? Eine Reihe von Gemeinden, Organisationen und Experten haben diese Frage in den vergangenen Monaten mit Leitfäden für die Neuankömmlinge zu beantworten versucht.

Wie begrüßt man sich in Deutschland? Wer war Karl der Große? Was ist ein Rechtsstaat? Wieso muss man Müll trennen? Wie signalisiert eine deutsche Frau, dass sie heiraten möchte?

In Broschüren, Aushängen, Flugblättern oder auch langen Büchern erklärten die Autoren den Flüchtlingen, wie Deutschland tickt - und verrieten dabei unfreiwillig eine Menge über dieses Land, das plötzlich versuchen musste, sich selbst zu verstehen. "Liebe fremde Frau, lieber fremder Mann", mit diesen Worten beginnt der wohl berühmteste Leitfaden aus Hardheim in Baden-Württemberg, der sich bei allen freundlichen Worten eben doch wie eine Mischung aus Gebrauchsanweisung, Hausordnung und Deutschland-Knigge liest. Haltet euch an unsere Regeln, dann wird es schon klappen.

Pünktlich zum Jahrestag von Angela Merkels berühmt-berüchtigtem Satz "Wir schaffen das" hat nun die freie Journalistin Kristin Helberg ein Buch über das Zusammenleben von Deutschen und Flüchtlingen veröffentlicht: "Verzerrte Sichtweisen. Syrer bei uns".

Ein Buch für diejenigen, die schon da sind

Auch dieses Buch versteht sich als Leitfaden für gelungene Integration - mit einem entscheidenden Unterschied: Er richtet sich nicht an die, die kommen, sondern an die, die schon da sind: an die Deutschen. Weil Integration, wie Helberg schreibt, keine Einbahnstraße sein dürfe.

Weil es nicht nur um die Aufklärung der Geflüchteten gehe, sondern auch um die der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Weil Integration nicht zwischen Sender und Empfänger, sondern nur zwischen Partnern gelingen könne. Mehr als 500 000 Syrer sind seit Beginn des Bürgerkriegs vor fünf Jahren nach Deutschland gekommen.

Helberg will erklären, wie sie ticken. Und klarmachen, dass es auch an den Deutschen liegt, ob die Integration nicht nur der Syrer in das "verkorkste Einwanderungsland" Deutschland gelingt.

Dass die 43-Jährige sich gegen die Bezeichnung "Syrien-Expertin" verwahrt, grenzt an Koketterie. Sieben Jahre hat Helberg als Journalistin aus Damaskus berichtet; 2008 musste sie das Land verlassen, drei Jahre vor dem Beginn des Krieges. Mit ihrem syrischen Mann und drei Kindern lebt sie heute in Berlin.

Das Wissen übereinander als Mittel gegen die Angst voreinander

Anekdotenreich beschreibt Helberg in ihrem Buch den syrischen Alltag, den sie als Deutsche erlebt hat, und schneidet den deutschen Alltag aus Sicht der Syrer dagegen. So entsteht ein Buch, das sich, dem Thema entsprechend, als integrierte deutsch-syrische Landeskunde lesen lässt, als Transferleistung auf 269 Seiten.

Wie begrüßt man sich in Syrien? Wieso haben Syrer mit dem Konzept der Mülltrennung Probleme? Wie signalisiert eine syrische Frau, dass sie heiraten möchte? Das Wissen übereinander, glaubt Helberg, ist das beste Mittel gegen die Angst voreinander.

Syrien beschreibt sie nicht unkritisch, aber mit großer Sympathie - und großer Traurigkeit. Es ist die Anatomie eines Landes, das es so nach fünf Jahren Bürgerkrieg vermutlich nicht mehr gibt. Trotzig schreibt Helberg dennoch im Präsens. Weil sich die Vergangenheitsform anfühlen würde, als trage sie das Land zu Grabe.

Die syrische Gesellschaft ist für Helberg nicht in erster Linie muslimisch, sondern paternalistisch geprägt. Eine konservative, männlich dominierte Gesellschaft, dem Europa unserer Großeltern und Urgroßeltern nicht unähnlich.

Das führt die Autorin zu ihrer zentralen und angesichts der hitzigen Debatten über islamistischen Terrorismus oder das Burka-Verbot wohltuend kühlen These: Der Islam wird in Deutschland überschätzt. "Muslime tun Dinge", schreibt Helberg, "weil sie arm sind oder reich, gebildet oder ungebildet, weil sie auf dem Land leben oder in der Stadt, weil sie gesellschaftlich benachteiligt, mächtig oder unterdrückt sind, weil sie sozialen Abstieg oder Aufstieg erlebt haben und weil ihre Eltern Arbeiter, Bauern oder Akademiker sind."

Der Islam ist nicht an allem schuld, soll das heißen. Oder, als Aufruf an die Deutschen formuliert: Entspannt euch!

Den Deutschen hat Helberg überhaupt einiges zu sagen. Durchaus streitlustig arbeitet sie sich an den Reizwörtern der hiesigen Debatte ab. Parallelgesellschaften? Nicht schlimm, solange sie den Flüchtlingen nicht aufgezwungen werden. Die Rolle der Frau in muslimisch geprägten Gesellschaften? Auch der deutsche Alltagssexismus stilisiert Frauen zum Objekt. Das "jüdisch-christliche Abendland"? Ein Kampfbegriff, dessen einziges Ziel darin besteht, den Islam als fremde Kultur auszuschließen. Deutsche Leitkultur? Gibt es nicht.

Dieser Blick einer Deutschen, der zugleich ein Blick von außen ist, tut der Debatte gut. Und doch tappt auch Helberg bisweilen in die Klischee-Falle, aus der sie ihre Leser befreien möchte.

Dass in Deutschland 81 Millionen Individualisten leben, wie sie behauptet, dass das Alleinsein schon Kindern als positiver Wert vermittelt würde, dass die deutsche Erziehung übertriebene Egos hervorbringe - nicht jeder wird sich diesem Blick auf Deutschland anschließen wollen. Vermutlich auch nicht jeder Syrer.

Selbstbewusste Vorschläge

Wie also gelingt sie, die Integration? Helberg macht zahlreiche, sehr konkrete und sehr selbstbewusste Vorschläge. Dabei ist ihre "Zauberformel" ganz einfach: private Patenschaften, ein "Dauer-Integrationskurs in alle Richtungen".

Und wem das zu anstrengend ist, der soll tun, "was viele Deutsche ohnehin gerne tun: spazieren gehen, über Zäune blicken, neugierig sein, dazulernen, Freunde besuchen, plaudern, zusammen grillen, Neues probieren".

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