Irische Gegenwartsliteratur:Wie sich eine Mutter vom Muttersein befreit

Mit "Nora Webster" fügt Colm Tóibín den großen literarischen Frauengestalten eine weitere hinzu. Ein stilles Meisterwerk.

Buchkritik von Christopher Schmidt

Einmal, da ist er schon seit drei Jahren tot, erscheint ihr Maurice in einem Fiebertraum. Nora sieht ihren verstorbenen Mann im Schaukelstuhl am Fenster sitzen und befragt ihn wie ein Orakel nach den Kindern, nach Fiona und Aine, Donal und Conor. Sie will wissen, wie es ihnen ergehen werde in der Zukunft, und schließlich sagt Maurice, dass es da noch jemand anderen gebe, ohne jedoch einen Namen zu nennen, was Nora schier um den Verstand bringt. Dabei hätte sie leicht erraten können, wen Maurice meinte, wäre sie nicht die Person, die sie ist, nämlich jemand, der nie nach sich selbst fragt, der sich vergessen hat seit dem Tod der "Liebe ihres Lebens", ein Geist gleich ihm mit einem spukhaften Leben, eingeschlossen in die Vergangenheit wie Maurice' Anzüge, die immer noch oben im Kleiderschrank hängen, "und in den Taschen mancher seiner Jacketts konnte sogar noch Kreide aus der Schule sein".

Es ist ein langer Abschied, von dem Colm Tóibín in seinem neuen, großartigen und unumwunden autobiografischen Familienroman "Nora Webster" erzählt, und dass dieser Abschied so viel Zeit braucht, hängt damit zusammen, dass es für ihn keine Zeit gibt. Denn Nora muss sofort da sein, sich kümmern und die Verantwortung übernehmen, als ihr Mann Maurice, dessen Herz in der Mitte des Lebens auf einmal stehen bleibt, sie zurücklässt mit vier Kindern und einer kleinen Witwenrente. Da ist sie 46 Jahre alt. Die Notwendigkeit, allein für die Familie sorgen zu müssen und nicht zu wissen, woher sie die Kraft dafür nehmen soll, macht es so schwer, Maurice' Sachen aus dem Haus zu schaffen, die unteren Zimmer gründlich zu renovieren,Farbe und Licht in die Räume zu lassen und die gemeinsamen Fotos im Kamin zu verbrennen, die sie in einem Holzkästchen verwahrt, zu dem sie den Schlüssel genauso verloren hat wie zu ihrem im Schmerz verkapselten Leben.

Mit spitzen Zungen säbelt die Kleinstadt sich jede Neuigkeit zu einem kleinen Skandal zurecht

Einen ersten Schritt aus dem Schattenreich wagt Nora, als sie eines Tages spontan beschließt, sich beim Friseur in der Stadt die Haare färben zu lassen - "graue Haare trägt heutzutage keiner mehr", antwortet Bernie, die Friseurin, auf Noras erschrockene Frage, ob diese Farbe nicht viel zu jugendlich für sie sei. Schließlich weiß sie sehr gut, dass ihre neue, modische Frisur für Gerede sorgen wird im Ort. Wie jede noch so kleine Veränderung für Gerede sorgt in dem Städtchen Enniscorthy im Süden Irlands, in dem auch Colm Tóibín 1955 geboren und aufgewachsen ist.

Mit langen Ohren hört die Kleinstadt das Innenleben ihrer Leute auf jedes verdächtige Rasseln ab, mit tausend Augen überwacht sie ihre Schäfchen, mit spitzen Zungen säbelt sie sich jede Neuigkeit zu einem kleinen Skandal zurecht. Wer hier lebt, bewegt sich in einem größeren Körper, der mit überscharfen Wahrnehmungsorganen und langen Tentakeln ausgestattet ist. Wie weit die Fangarme der Provinz reichen, wenn sie die Gestalt von Verwandtschaftsverhältnissen und transatlantischen Telefonkabeln annehmen, das hatte schon eine andere Bewohnerin von Enniscorthy erfahren müssen: Eilis Lacey, die junge Heldin in Colm Tóibíns Roman "Brooklyn" aus dem Jahr 2009 (dt. 2010).

Sie erlebt, wie sie im großen New York vom kleinen Enniscorthy eingeholt wird und auch in der neuen Welt eine Bürgerin der alten bleibt. Man kann einen Ozean zwischen sich und die Heimat bringen, seiner irischen Herkunft entkommt man trotzdem nicht. Beiläufig ist im neuen Roman zu erfahren, wie es weiterging mit Eilis, ihrem Mann Tony und dem anderen Mann, den sie zwanzig Jahre, bevor die Handlung von "Nora Webster" einsetzt, in Irland zurückließ; umgekehrt wurde auch Nora Webster in "Brooklyn" schon einmal kurz erwähnt. Dass es nun um die Zeit zwischen 1969 und 1972 geht, wird nur indirekt mitgeteilt, durch die Erwähnung der Mondlandung, der Unruhen in Derry und des Brands der britischen Botschaft in Dublin.

Der aufflammende Nordirland-Konflikt bildet die politische Hintergrundstrahlung des Romans. Und die übergeordnete Bedeutung der sozialen Gemeinschaft, dieses zweiten Körpers, stellt Colm Tóibín heraus, indem er seinen Roman über die Ufer der Individualgeschichte treten lässt und in die ungeschriebene Chronik einer ganzen Region einbettet. Kaum zufällig beginnt der erste Teil mit dem Kondolenzbesuch von Eilis' ebenfalls verwitweter Mutter May, ein halbes Jahr nach dem Tod von Maurice. Dass May seinerzeit, als ihre ältere Tochter Rose ebenso plötzlich starb wie Noras Mann, nicht weniger unter den nicht enden wollenden Beileidsbekundungen litt, die wie ein Bremsklotz den Neubeginn hemmen, hält sie keineswegs davon ab, es Nora nun genauso schwer zu machen.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman Nora Webster stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Alle sind eingespannt in die Netzwerke von Verwandt- und Nachbarschaft, im Guten wie im Schlechten. Aber die Anteilnahme und tätige Unterstützung, die Nora von jeder Seite zuströmen, hat sie nicht ihrem eigenen guten Ruf zu verdanken, sondern dem ihres verstorbenen Mannes, der ein beliebter Lehrer war und geachteter Bürger, ein Mann, der sich politisch engagierte, abends Zeitungsartikel schrieb und eine genossenschaftliche Bausparkasse mit auf den Weg brachte. Nora hingegen gilt als impulsiv und eigensinnig, als starrsinnige Rebellin und wahre Furie, unverdient beschenkt mit einer Seele von Ehemann. Letztlich aber wird ihr gerade dieses aufbrausende Temperament die Kraft verleihen, sich von der Vergangenheit zu lösen.

Schwester Thomas war Meldegängerin für den Freiheitskämpfer Michael Collins

Die Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit als Buchhalterin empfindet Nora jedoch nicht als Schritt in die Unabhängigkeit, sondern als Ende der Freiheit, die sie in Ehe und Mutterschaft gefunden hatte. Nicht weil sie ungern arbeitet, sondern weil die Arbeit, die sie verrichtet, weit unter ihren Talenten liegt. Das Studium, zu dem sie hervorragend befähigt gewesen wäre, konnte und wollte ihr die Familie nicht finanzieren. Um so erfolgreicher sind nun ihre begabten Kinder. Ein Sorgenkind ist nur Donal, der seit dem Tod des Vaters stottert und sich immer häufiger in seinem Fotolabor vergräbt.

Verkrallt in den Schmerz

Als er wegen nachlassender Schulleistungen heruntergestuft werden soll, droht Nora mit einer Blockade. Mit einem Transparent will sie den Zugang zur Schule versperren und jeden vorbeikommenden Lehrer mit einem Witwenfluch belegen. Und als ihre Vorgesetzte einmal eine spöttische Bemerkungen über Noras Mann macht, geht sie mit einer Schere auf sie los und stürmt dann kopflos aus dem Büro, um ans Meer zu fahren, fest entschlossen, nie wieder ihren Fuß in die Firma zu setzen.

Doch das wachsame Auge der Gemeinschaft hat bereits einen Schutzengel in Marsch gesetzt. Am Strand kommt ihr unversehens Schwester Thomas entgegen, eine Nonne, die schon für den irischen Freiheitskämpfer Michael Collins als Meldegängerin unterwegs war. Nun ist sie wieder in geheimer Mission im Einsatz, um Nora von einem falschen Schritt abzuhalten.

Nora Webster ist eine starke Frau und eine Löwenmutter, die selbst vor anonymen Drohbriefen nicht zurückscheut, wenn es darum geht, ihre Kinder zu beschützen. Als sie erfährt, dass ein 17-Jähriger während einer Demonstration, bei der das britische Militär blindlings in die Menge schoss, getötet worden ist, sagt sie: "Wenn ich die Mutter eines dieser erschossenen Jungen wäre, würde ich mir eine Pistole besorgen. Ich hätte eine Pistole im Haus." Aber die verbal so schießwütige Nora ist verkrallt in ihren Schmerz und muss lernen, ihre Krallen zu lockern. Drei Dinge helfen ihr dabei: Zunächst ihr scharfer Verstand, von dem gilt, was Colm Tóibín einmal in einer älteren Erzählung geschrieben hat: "Es war so, als hätte er seine Mutter nur besucht, um in den Gebrauch der Vernunft eingewiesen zu werden." Sodann ihre wiederentdeckte Liebe zur Musik. Und schließlich das Meer.

Denn wie Eilis Lacey aus "Brooklyn" ist Nora nicht nur gut im Rechnen, sondern auch im Schwimmen, was man in beiden Fällen als Hinweis auf die Gabe nehmen darf, sich nichts vormachen und sich niemals unterkriegen zu lassen. "Es war so, als lebte sie unter Wasser und hätte den Versuch, sich wieder nach oben, an die Luft zu kämpfen, aufgegeben", heißt es allerdings am Anfang. Dann aber beginnt sie, sich ganz unmetaphorisch im Rückenschwimmen zu üben, flach und reglos auf dem Wasser zu liegen und dem Auftrieb zu vertrauen.

In Nora Websters Kampf um Selbständigkeit spiegelt sich der irische Freiheitskampf wider

Während in Belfast und Dublin der Nordirlandkonflikt eskaliert, kämpft Nora Webster um ihre ganz persönlich Selbstermächtigung. Allmählich findet sie heraus, wer sie sonst noch ist außer der treuen Ehefrau eines Mannes, der nicht mehr lebt, und der stolzen Mutter von vier wohlgeratenen Kindern. Sie muss es herausfinden, damit sie im vollen Sinne beides sein kann. Dass Selbstlosigkeit nichts wert ist, wenn man sein Selbst von vornherein preisgibt, auch davon erzählt dieser grandiose Roman. Als Donal sich gegen den Willen der Mutter den Wechsel auf ein Internat ertrotzt und seine erste Heimwehkrise durchleidet, widersteht Nora dem Impuls, ihn abzuholen und den Namen der Schule nie wieder zu erwähnen.

Statt dessen verspricht sie ihm Flankenschutz mit regelmäßigen Briefen, Fresspaketen und Besuchen, um die Eingewöhnungsphase zu überbrücken. So erspart sie ihrem Sohn eine Niederlage, und indem sie zum ersten Mal von sich selbst und ihren eigenen Bedürfnissen spricht, hilft sie ihm besser, als wenn sie ihn wieder unter ihre Fittiche genommen hätte. Indem sie Autonomie beweist, macht sie auch ihn autonom. "New Ways to Kill Your Mother" heißt ein Essayband von Colm Tóibín aus dem Jahr 2012. In "Nora Webster" geht es um eine Frau, die die Mutter in sich töten muss, um zu werden, wer sie ist, zu jemandem, der "gelitten und das Leiden hinter sich gelassen hatte und dann zu ihm zurückgekehrt war und es hatte verweilen und in sich wohnen lassen."

Donal spricht einmal etwas geschwollen über das Paradox des Glaubens, das etwas anderes sei als ein Beweis. "Es ist nicht wie zwei und zwei zusammenzählen, sondern eher so, als fügte man zu Wasser Licht hinzu." Schwester Thomas, eigentlich eine Expertin für solche Fragen, drückt es profaner aus: "Es wird alles gut. Es ist eine kleine Stadt, und sie wird Sie behüten. Kehren Sie jetzt zu ihr zurück. Und hören Sie auf zu trauern, Nora. Die Zeit dafür ist vorüber."

Colm Tóibín hat schon oft über übermächtige Mütter geschrieben. Man denke nur an seinen Erzählungsband "Mütter und Söhne" (2006, dt. 2009) oder an die ebenso tyrannische wie lebensuntüchtige Monstermutter aus dem Roman "Die Geschichte der Nacht" (1996, dt. 1999). Zuletzt hat er sogar ein Buch über die Mutter aller Mütter geschrieben. "Marias Testament" (2012, dt. 2014) erzählt von der Mutter Jesu, die ihrem Sohn nicht verzeihen kann, dass er sie verleugnet, als er sich zum Sohn Gottes erklärt. Wie diese Maria ist auch Nora eine ebenso einfache wie erstaunliche Frau, eine Dulderin, deren Geschichte die Dünung von Tóibíns ruhig und kraftvoll rhythmisierter Prosa so sanft am Strand ablegt wie eine Flaschenpost.

Colm Tóibín: Nora Webster

Colm Tóibín: Nora Webster. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2016. 384 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Die Botschaft aber, die in dieser Flaschenpost steckt, ist eine doppelte, spiegelt sich doch in Nora Websters Kampf um Unabhängigkeit der irische Unabhängigkeitskampf wider. Wer will, kann in ihr also durchaus eine Nationalikone sehen. Wie ihre Ahninnen Anna Karenina, Effi Briest oder Emma Bovary gehört Nora Webster schon jetzt in die Galerie der unsterblichen Frauengestalten der Literatur. Zu Recht meldet Colm Tóibín diesen Anspruch an, indem er den Titel seines Buches allein für ihren Namen reserviert, als wäre dieses Buch ein Monument. "Nora Webster" ist ein großer Entwicklungsroman über eine Frau in einem über Jahrhunderte unterentwickelten und fremdbestimmten Land, ein stilles Meisterwerk.

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